Vortragssitzung

Versorgungsforschung 2

Talks

Pharmakologische Therapie bei Menschen mit Down-Syndrom und Demenz in Abhängigkeit von der Unterbringungsform – Ergebnisse einer Routinedatenanalyse
Milena Weitzel, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen

Einleitung / Introduction

Menschen mit Down-Syndrom (MmDS) haben genetisch bedingt ein stark erhöhtes Risiko, an einer frühen Alzheimer-Demenz zu erkranken. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ergeben sich in der Diagnostik und Therapie bei MmDS jedoch besondere Herausforderungen. Umfassende Versorgungsstrukturen existieren für diese Zielgruppe bisher allerdings nicht. In der S3-Leitlinie „Demenzen“ werden u.a. Empfehlung zur pharmakologischen Therapie gemacht. Auf eine medikamentöse Therapie mit anticholinergen Substanzen soll z.B. verzichtet werden. Im Rahmen einer Routinedatenanalyse im Zuge des vom Innovationsfonds geförderten Projektes DS-Demenz („(Zugang zur) Diagnostik und Therapie demenzieller Erkrankungen bei Menschen mit einem Down-Syndrom“; 01VSF21030) wurde untersucht, inwieweit die Leitlinienempfehlungen zur medikamentösen Therapie in der Zielpopulation im Vergleich zur Gesamtbevölkerung umgesetzt werden.

Methode / Method

Für die Untersuchung wurden AOK-Routinedaten der Jahre 2010 bis 2019 herangezogen. Die Studienpopulation besteht zum einen aus einem Volldatensatz der AOK-Versicherten mit DS und einer (Alzheimer)-Demenz (n = 4.195, 2019) und zum andern aus einer Zufallsstichprobe in Höhe von etwa 40% der AOK-Versicherten ohne DS und mit einer (Alzheimer)-Demenz (n = 216.033, 2019). Auf Basis der Leitlinienempfehlungen wurden vergleichende deskriptive Analysen zur medikamentösen Versorgung der Versichertengruppen mit Alzheimer-Demenz mit und ohne DS durchgeführt. Des Weiteren wurde untersucht, inwieweit Unterschiede in Abhängigkeit von der Unterbringungsform bestehen.

Ergebnisse / Results

Personen in der Allgemeinbevölkerung mit Demenz erhalten häufiger Antidementiva als MmDS (18,8% vs. 14,9% im Jahr 2019). Antidementiva werden bei MmDS außerdem häufiger verordnet, wenn diese in einem Pflegeheim (nach §43 oder § 43a SGB XI) untergebracht sind (14,9% vs. 9,1%). Antipsychotika und Benzodiazepine wurden bei MmDS deutlich häufiger verordnet als in der Vergleichspopulation (38,7% bzw. 19,1% vs. 28,8% bzw. 8,9%). Auch Antipsychotika mit anticholinerger Wirkung werden bei MmDS häufiger eingesetzt (2,5% vs. 0,6%). Sowohl Antipsychotika als auch Benzodiazepine werden bei Pflegeheimbewohnenden außerdem signifikant häufiger verordnet (p<0,001). In der Population der MmDS ist bei den Benzodiazepinen besonders auffällig, dass diese bei Pflegebedürftigen in einer vollstationären Einrichtung signifikant häufiger verordnet werden als bei Pflegebedürftigen in einer vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen (p<0,001).

Zusammenfassung / Conclusion

Im Vergleich mit der Population mit Demenz ohne DS gibt es Hinweise auf eine weniger adäquate pharmakologische Versorgung. Es besteht Forschungsbedarf bzgl. der Gründe und der Angemessenheit der häufigeren Verordnung von Antipsychotika und Benzodiazepinen bei Pflegeheimbewohnern.


Authors
Milena Weitzel, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen
Godwin Giebel, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen
Pascal Raszke, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen
Jürgen Wasem, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen
Anke Walendzik, Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement GmbH - EsFoMed, Essen
Johannes Levin, Department of Neurology, LMU University Hospital, LMU Munich, Munich, Germany; German Center for Neurodegenerative Diseases, Site Munich, Munich, Germany; Munich Cluster for Systems Neurology (SyNergy), Munich, Germany
Olivia Wagemann, Department of Neurology, LMU University Hospital, LMU Munich, Munich, Germany; German Center for Neurodegenerative Diseases, Site Munich, Munich, Germany; Munich Cluster for Systems Neurology (SyNergy), Munich, Germany
Elisabeth Wlasich, Department of Neurology, LMU University Hospital, LMU Munich, Munich, Germany; German Center for Neurodegenerative Diseases, Site Munich, Munich, Germany; Munich Cluster for Systems Neurology (SyNergy), Munich, Germany
Georg Nübling, Department of Neurology, LMU University Hospital, LMU Munich, Munich, Germany; German Center for Neurodegenerative Diseases, Site Munich, Munich, Germany; Munich Cluster for Systems Neurology (SyNergy), Munich, Germany
Johannes Pantel, Institut für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main
Valentina Tesky, Institut für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main
Arthur Schall, Institut für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main
Thomas Ruhnke, Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), AOK-Bundesverband, Berlin
Patrik Dröge, Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), AOK-Bundesverband, Berlin
Theresa Hüer, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen
Seltene Krankheiten und Nierensteine: Sind Steine bei Aminosäurentransportstörungen anders?
Steffen Wilhelm Wahler, St. Bernward GmbH

Einleitung / Introduction

Einleitung: Zu den Aminosäuretransportstörungen (atd) gehören die Cystinspeicherkrankheit, der De-Toni- Debré-Fanconi-Komplex, Hartnup-Krankheit, Lowe-Syndrom, Zystinose und Zystinurie. Alle diese Krankheiten sind erblich bedingt und sehr selten. Einige verursachen Nierensteine, insbesondere die Zystinurie, die für 1 % aller Steine bei Erwachsenen verantwortlich gemacht wird. Es ist wenig bekannt, ob Nierensteine von Patienten mit atd Unterschiede aufweisen und anders behandelt werden. Wir haben daher die deutschen Erstattungsdaten analysiert, um mögliche Differenzen zu ermitteln.

Methode / Method

Methoden: Stationäre Versorgungsdaten aus dem Statistischen Bundesamt 2021 und Qualitätsberichte für 2021 aller deutschen Krankenhäuser Ausgewertet wurden die stationären Nierensteinbehandlungen bei Patienten mit atd im Vergleich zu allen Behandlungen von Nierensteinen. Auswertung mit Microsoft Excel® Version 2019

Ergebnisse / Results

102.518 (alle) Fälle mit Hauptdiagnose Nierenstein wurden in 2021 kodiert, davon 90 mit atd. Weniger als 0,01% der Steine des Erwachsenenalters waren durch Zystinurie bedingt. Das Durchschnittsalter der atd-Patienten betrug 26,5 Jahre (Median 22 Jahre), das aller Patienten 52,3 Jahre (Median 52 Jahre). 62,2 % der atd-Patienten waren männlich (alle: 67,4 %). Die Aufenthaltsdauer betrug 2,9 Tage bei atd (alle: 2,5 Tage). Nierensteine wurden bei atd: 73,3% (alle: 38,0%) gefunden; Harnleitersteine bei 11,1 % der atd-Steine (alle: 51,4 %); Nieren- und Harnleitersteine gleichzeitig bei 15,6 % der atd-Steine (alle: 9,5 %); bei 1,1 % aller Steine war die Lage nicht nicht definiert, bei keinem der atd-Steine. Urogenitale Implantate wurden in 22,2% der atd Fälle kodiert (alle: 19,0%). Die ureterorenoskopische (URS) Lithotripsie war das führende Verfahren bei atd: 61,7 % (alle: 21,7 %). Holmium-Laser wurde in 34,4 % der atd-Fälle (alle: 12,2 %) verwendet, andere Laser in 7,8 % der atd-Fälle (alle: 3,4 %). Bei atd wurde die Nephrotomie als Verfahren in 67,8% der Fälle kodiert (alle: 30,6%) und Ureotomie in 36,7% (alle: 47,2%). Die Ergebnisse für atd summieren sich auf mehr als 100%, in einigen Fällen wurde beides angewandt. 52,2 % aller atd-Steinfälle wurden in großen öffentlichen Krankenhäusern behandelt mit >1.000 Betten (in der Regel Universitätsklinika) behandelt, aber nur 10,4 % aller Steinfälle insgesamt.

Zusammenfassung / Conclusion

Nierensteine bei Patienten mit atd sind anders: Die Patienten sind viel jünger, fast die Hälfte Kinder. Die haben viel seltener Harnleitersteine, aber trotz des jüngeren Alters längere Krankenhausaufenthalte. Moderne Techniken wie Holmium-Laser werden bei atd deutlich häufiger angewandt, bevorzugter Weg ist die URS-Lithotripsie. Es wurden weniger als die erwarteten Steine aufgrund von Zystinurie kodiert. Mehr Erkenntnisse wären mit Registern möglich.


Authors
Steffen Wilhelm Wahler, St. Bernward GmbH
Jun Oh, Universitätskrankenhaus Eppendorf, Hamburg
Chronische entzündliche Darmerkrankungen: Diagnostik und Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen
Udo Schneider, Techniker Krankenkasse

Einleitung / Introduction

Bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) ist die richtige (Erst-) Diagnose oftmals schwierig und langwierig. Die Korrektheit der Diagnose ist aber essentielle Voraussetzung für die bestmögliche Medikamentierung bei den Patient:innen. Eine Fehldiagnose wie z. B. Colitis Ulcerosa (CU) anstelle von Morbus Crohn (MC) hat eine erhebliche Verlängerung und Verschlechterung des Krankheitsbildes und somit eine hohe Unsicherheit über den Erfolg der Behandlung zur Folge. Eine möglichst schnelle, korrekte Diagnose und die Gabe der optimalen Medikation dagegen kann eine akute Krankheitsphase erheblich verkürzen. Damit kann eine langfristige, weitgehend beschwerdefreie chronische Phase ermöglicht werden. Ein wesentlicher Vorteil für die Versorgung ist dabei die Verringerung der Unsicherheit sowohl auf Patient:innen als auch auf medizinischer Seite, um die Behandlung im weiteren Verlauf patientenindividuell zu optimieren.

Methode / Method

Basierend auf GKV-Abrechnungsdaten der Techniker Krankenkasse werden retrospektiv Daten von inzidenten und prävalenten Versicherten mit einer gesicherten CED-Diagnose (CU oder MC) aus dem ambulanten oder stationären Bereich analysiert. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Indikationsqualität sowie der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen wie stationären Aufenthalten oder spezifischer Inanspruchnahme von Arzneimitteln im Zeitverlauf. Zu diesem Zweck wird die Indikationsqualität auf Basis von Wechseln in der Diagnose zwischen CU und MC bewertet.

Ergebnisse / Results

Erste Auswertungen von Versichertendaten der TK zeigen, dass im Jahr 2022 knapp 100.000 Versicherte hatten eine CED. Weniger als 30 % dieser Versicherten sind älter als 60 Jahre. Knapp 40.000 Versicherte hatten im Betrachtungsjahr eine MC-Diagnose, 53.000 Versicherte eine CU-Diagnose. Insgesamt fanden sich bei 6.700 Versicherten beide Diagnosen, häufig davon im Wechsel codiert. so dass eine erhebliche Zahl an CED-diagnostizierten Patient:innen häufige Wechsel in der spezifischen CED-Diagnose (MC vs. CU), insbesondere zwischen den verschiedenen Sektoren und Einrichtungen des Gesundheitswesens, aufweisen. In diesen Fällen liegt keine eindeutige Diagnose vor, die für die Patienten jedoch essenziell wichtig für die weitere Behandlung und eine möglichst kurze akute Phase der Erkrankung ist.

Zusammenfassung / Conclusion

Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen stellen eine bereits in jungen Jahren häufig auftretende, lebenslange Erkrankung dar. Eine Fehldiagnose kann zu falschen Therapieentscheidungen führen und durch eine dann nicht leitliniengerechte Versorgung die Lebensqualität der Patient:innen beeinflussen. Dies kann mit Über-, Unter- oder Fehlversorgung sowie hohen Kosten einhergehen.


Authors
Udo Schneider, Techniker Krankenkasse
Jörn Kohlhammer, Fraunhofer IGD
Stefan Wesarg, Fraunhofer IGD
Irina Blumenstein, Universitätsklinikum Frankfurt, Goethe-Universität
Kathrin Thöne, Techniker Krankenkasse
Analyse und Kartogramm der Versorgung von Opioid-Langzeitpatienten mit chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen auf regionaler Ebene
Nils Frederik Schrader, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen

Einleitung / Introduction

Im weltweiten Vergleich weist Deutschland einen der höchsten Pro-Kopf-Verbräuche opioidhaltiger Analgetika (OA) auf. Internationale Studien zeigen, dass erhebliche regionale Unterschiede im Verordnungsgeschehen sowie Konzentrationen in sozioökonomisch benachteiligten Gebieten bestehen, Analysen dieser Art fehlen bislang für Deutschland. Ziel dieser Untersuchung ist eine kleinräumige Analyse des Zusammenhangs zwischen Merkmalen von OA-Langzeitpatienten mit chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen und strukturellen Parametern ihrer Wohnregion.

Methode / Method

Als Datengrundlage dienten die Routinedaten der DAK-Gesundheit aus dem Zeitraum Q1/2018 bis Q1/2021. Eingeschlossen wurden alle Personen >17 Jahre mit jeweils mindestens einer OA-Verschreibung in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen. Die Wohnregion jedes Patienten lag in Form einer dreistelligen Postleitzahl (PLZ) vor. Für jedes der PLZ-Gebiete wurde aus den Routinedaten die durchschnittliche verschriebene Tagesdosis sowie der Anteil an Patienten mit Inanspruchnahme von Leistungen aus der Schmerz-, Physio- und Psychotherapie ermittelt. Im Anschluss wurden die Indikatoren mittels direkter Altersstandardisierung adjustiert und mit regionalen Kennzahlen gematcht. Dazu dienten als relatives Maß sozioökonomischer Benachteiligung der German Index of Social Deprivation (GISD) sowie die Anzahl der Ärzte je 10.000 Einwohner.

Ergebnisse / Results

Mit den 113.476 eingeschlossenen Patienten konnten alle existierenden 671 PLZ-Dreisteller abgedeckt werden, wobei die Mindestanzahl bei 10 Personen pro Gebiet lag (max. 717 Personen). 75% der Patienten waren weiblich, das Durchschnittsalter lag bei 72 Jahren. Vorläufige Analysen auf PLZ-Ebene zeigten moderate Korrelationen zwischen dem Deprivationsgrad der Region und der durchschnittlichen Tagesdosis (r=0,29) sowie der Inanspruchnahme von Psychotherapie (r=-0,33). Schwache Korrelationen wurden zwischen der Arztdichte und der Inanspruchnahme von Schmerz- (r=0,20) bzw. Psychotherapie (0,24) beobachtet. Im weiteren Verlauf soll der Zusammenhang zwischen den Patientenparametern aus den Routinedaten und den regionalen Indikatoren mittels k-Means Cluster-Analyse untersucht werden. Die identifizierten Cluster werden als Flächenkartogramm auf PLZ-Ebene dargestellt, um regionale Unterschiede gebietsbezogen zu visualisieren.

Zusammenfassung / Conclusion

Die vorläufigen Ergebnisse liefern erste Hinweise sowohl auf höhere Tagesdosen in deprivierten Regionen als auch auf eine geringere Inanspruchnahme von relevanten Versorgungsleistungen in Regionen mit einer geringeren Arztdichte. Die weiterführenden Analysen sollen dazu dienen, Zusammenhänge zwischen regionaler Struktur und OA-Versorgung kleinräumig aufzuzeigen und somit potentiell von Unter- bzw. Fehlversorgung gefährdete Gebiete zu lokalisieren.


Authors
Nils Frederik Schrader, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen
Anja Niemann, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen
Christian Speckemeier, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen
Carina Abels, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen
Nikola Blase, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen
Godwin Denk Giebel, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen
Cordula Riederer, DAK-Gesundheit
Milena Weitzel, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen
Joachim Nadstawek, Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland – BVSD e.V.
Wolfgang Straßmeir, Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland – BVSD e.V.
Jürgen Wasem, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen
Silke Neusser, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen