Organized session

Real-World-Evidence (RWE) für die gesundheitsökonomische Versorgungsforschung. Anforderungen und Nutzen aus vier Perspektiven

Routinedaten, insbesondere die Daten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), sind inzwischen ein fester Bestandteil in der Gesundheits- und Versorgungsforschung geworden. GKV-Routinedaten sind Abrechnungsdaten und entstehen im Abrechnungskontext bei der medizinischen Behandlung von Patientinnen und Patienten. Leistungserbringer, beispielsweise Krankenhäuser oder Arztpraxen, müssen ihre Leistungen und abrechnungsbegründende Diagnosen an die jeweils versichernde Krankenkasse übermitteln, worauf entsprechende Zahlungen erfolgen. Dieser Prozess erfolgt unter Einschaltung weiterer Stellen, wie Kassenärztliche Vereinigungen oder Apothekenabrechnungs-zentren. Die Abrechnungsdaten werden bei den Krankenkassen versichertenbezogen gespeichert und unterliegen vorgegebenen Löschfristen. Die Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenkassen bilden das medizinische Versorgungs-geschehen nahezu lückenlos ab, da sie aus allen Versorgungssektoren und von allen Leistungserbringern Daten bereitstellen und damit in idealer Weise auch die Schnittstellen der Versorgung für die Forschung zugänglich machen. Die aus Sicht der Versorgungsforschung wichtigen Profile umfassen ambulante ärztliche Versorgung und stationäre Aufenthalte mit Leistungen und Diagnosen, Arzneimittel, Arbeitsunfähigkeiten, weitere Leistungsbereiche wie Heil- und Hilfsmittel, Hebammenleistungen oder häusliche Krankenpflege. In welchem Kontext diese Information auf Basis welcher Datensätze zur Beantwortung welcher Fragestellung genutzt werden können, und worin förderliche und hinderliche Faktoren zur Nutzung liegen, diskutieren die nachfolgenden Beiträge. Dabei decken die Beiträge vier wichtige Perspektiven der routinedatenbasierten Versorgungsforschung ab: Die der gesetzlichen Krankenkassen (Dr. Christian Kümpel, GWQ ServicePlus AG), die der vertragsärztlichen Versorgung bzw. Versorgungssteuerung (Dr. Mathias Flume, Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe), die der Auftrags- und Methodenforschung (Dr. Julian Witte, Vandage GmbH) und die der forschenden Pharmaindustrie (Dr. Pavo Marijic, GSK).

Talks

Anforderung und Nutzen von Real-World-Evidence aus Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung
Christian Kümpel, GWQ ServicePlus AG

Introduction

Datenanalytik wird für die Verbesserung der Versorgungsqualität und die Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven im Gesundheitssystem immer wichtiger. Die fortschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen schafft hierfür jetzt und in Zukunft zunehmende Potentiale in der Verfügbarkeit und Nutzung von Gesundheitsdaten. Insbesondere die Routine- und Versorgungsdaten der Gesetzlichen Krankenkassen stellen sich in diesem Kontext als besonders attraktiv dar. In keinem anderen verfügbaren Datensatz im deutschen Gesundheitswesen lässt sich bisher das reale Versorgungsgeschehen umfänglicher, d. h. über alle Sektoren hinweg, darstellen. Krankenkassen dürfen Abrechnungsdaten für verschiedene Zwecke verwenden. Einerseits für die Abrechnungsprüfung und die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung andererseits aber auch für die Vorbereitung von zu schließenden Verträgen mit Leistungserbringer:innen und der Vorbereitung von Versorgungsinnovationen. Insbesondere letzteres rückt zunehmenden in den Fokus. Vielfältige analytische Werkzeuge (Process Mining, Clusteranalysen, Prädiktionsalgorithmen, Kausalanalysen) eröffnen vor allem bei der Nutzung großer Datensätze neues Erkenntnispotential. Die GWQ hat hierzu für 19 ihrer Aktionärskassen (Betriebs- und Innungskrankenkassen) einen anonymisierten Datenpool mit ca. 6 Millionen Versicherten erstellt. Die GWQ nutzt diese Datengrundlage um für ihre Krankenkassen analytisch mögliche Über-, Unter- sowie Fehlversorgungen zu erkennen. Dabei wird die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der Versorgungspraxis faktenbasiert dargestellt, Impulse für die Planung neuer bedarfsgerechter Versorgungswege gegeben sowie die Ergebnisqualität und die Kosten verschiedener Therapieansätze verglichen. Neben diesen inhaltlichen Analysen steht die Weiterentwicklung der Nutzungsmöglichkeiten von GKV-Routinedaten im Fokus der GWQ. Dazu zählen Untersuchungen zur Generalisierbarkeit von Routinedatenanalysen bei begrenzten Datenpools (Repräsentativität) und Projekte zur Verknüpfung von GKV-Routinedaten mit weiteren Datenquellen (z.B. Labor-Daten), um Datenlimitationen zu überwinden. Beispiele für die Use-Cases der GWQ werden in diesem Beitrag vorgestellt und diskutiert.

Anforderung und Nutzen von Real-World-Evidence zur kleinräumigen Versorgungssteuerung und Evaluation von Behandlungspfaden
Mathias Flume, Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe

Introduction

Routinemäßig erhobene Versorgungsdaten sind neben der Beantwortung populationsbasierter Fragestellungen mit hohem, ggf. bundesweitem Abstraktionsbedarf auch für die kleinräumige Evaluation von Versorgung und Versorgungsstrukturen geeignet. Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) vertritt beispielsweise die Interessen von mehr als 15.000 niedergelassenen Vertragsärztinnen und -ärzten. Die Datenerfassung und Übermittlung folgen den Bestimmungen der vertragsärztlichen Versorgung gemäß §§ 295 SGB V. Auf Basis dieser Daten sind unter Beachtung datenschutzrechtlicher Vorgaben und entsprechender Pseudo- bzw. Anonymisierungsprozesse sowohl quer- als auch längsschnittliche Analysen zu Erkrankungshäufigkeiten, der Inanspruchnahme ambulant-ärztlicher und therapeutischer Leistungen sowie dem damit verbundenen Einsatz neuer medikamentöser und nicht-medikamentöser Therapieverfahren möglich. Insbesondere die Darstellung und Evaluation sektorenübergreifender Versorgungsprozesse und die Abbildung individueller Patientenpfade ist eine große Stärke dieser Datengrundlage. Beispiele für entsprechende Analysen aus dem Arbeitsalltag der KVWL werden in diesem Beitrag vorgestellt und diskutiert.

Analysemöglichkeiten mit Real-World-Data: Welche Daten wie wofür nutzen?
Julian Witte, Vandage GmbH

Introduction

In Deutschland ist die Datenlandschaft vielfältig, vielgestaltig und bisher wenig vernetzt. Das Interesse an der Nutzung von Daten im Gesundheitswesen ist in den vergangenen Jahren gleichsam kontinuierlich gestiegen. Mit dem derzeit im Aufbau befindlichen Forschungsdatenzentrum (FDZ) oder bereits seit einigen Jahren öffentlich verfügbaren stationären Versorgungsdaten beim Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) entwickelt sich der komplizierte Teil der Versorgungsforschung stärker weg vom Problem der Datengenerierung hin zur Herausforderung der Studienprotokoll- und Analysegestaltung. Gleichzeitig haben verschiedene Stakeholder im Gesundheitswesen den Wert kontinuierlicher und konsistenter Datenreihen erkannt und früh in den Aufbau anonymisierter Datenpools investiert. Dieser ermöglicht neben querschnittlichen insbesondere auch längsschnittliche Analysen größerer Kohorten zur Beantwortung (versorgungs-) epidemiologischer und gesundheitsökonomischer Fragestellungen. Eine Beschreibung verschiedener (öffentlich verfügbarer) Datenpools und verschiedener Analysestrategien anhand ausgewählter Fragestellungen werden in diesem Vortrag präsentiert. Zudem wird die Notwendigkeit zur Beurteilung der Repräsentativität selektierter Datensätze beschrieben.

Anforderung und Nutzen von Real-World-Evidence und Gesundheitsdaten im Arzneimittelbereich zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung
Pavo Marijic, GSK

Introduction

Die Verwendung von lokalen Gesundheitsdaten spielt eine entscheidende Rolle bei der Bereitstellung einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung in Deutschland. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens und die Anwendung innovativer Methoden wie künstlicher Intelligenz bieten erhebliches Potenzial zur Verbesserung der Versorgung. Insbesondere dienen lokale Versorgungsdaten, die auf Krankenkassendaten basieren, als ausgezeichnete Grundlage zur Beantwortung wichtiger Forschungsfragen im Gesundheitswesen insgesamt sowie im Arzneimittelbereich. Diese Daten bieten unter anderem eine umfangreiche Erfassung der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, einschließlich detaillierter Informationen zur Arzneimittel- und Impfstoffversorgung, ermöglichen longitudinale Analysen über einen langen Zeitraum und berücksichtigen große Bevölkerungsgruppen. Die Nutzung von Versorgungsdaten für Forschungszwecke bietet dabei zahlreiche Möglichkeiten. Dazu gehören beispielsweise detailliertere Analysen zu Nebenwirkungen und Wechselwirkungen von Arzneimitteln, die Aufdeckung von Versorgungslücken, wie sie bei der Inanspruchnahme präventiver Maßnahmen wie Impfungen auftreten können, die Anwendung synthetischer Kontrollgruppen bei seltenen/onkologischen Erkrankungen sowie die Erfassung wichtiger epidemiologischer Kennziffern wie der Inzidenz und Prävalenz von Erkrankungen und den damit einhergehenden pharmazeutischen Bedarf. Die wachsende Bedeutung von Real-World-Evidence für die Evaluierung von Therapieoptionen unterstreicht ebenfalls, dass Versorgungsdaten bzw. Real-World-Daten auch in Zukunft an Relevanz gewinnen werden. Aktuell spielen Versorgungsdaten bereits eine bedeutende Rolle in verschiedenen Prozessen, unter anderem bei der Bestimmung der Krankheitslast, bei Arzneimittelzulassungen, Nutzenbewertungen sowie der Sicherheit von Arzneimitteln. Diese Rolle wird zukünftig noch weiter zunehmen, wobei Versorgungsdaten ein erhebliches Potenzial für die Verbesserung der Patientenversorgung darstellen.