Organized session

Der PopGrouper - ein System zur Klassifikation des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs

Das deutsche Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen. Die Gesellschaft altert, chronische Krankheiten nehmen zu, und es bestehen simultan Probleme von Unter-, Über- und Fehlversorgung. Bereits vor der Corona-Pandemie haben verschiedene Gutachten auf einen Reformbedarf in der ambulanten Bedarfsplanung sowie der Krankenhausplanung hingewiesen. Eine Wende zu einer sektorenübergreifenden Versorgungsstrukturplanung wird seit mehreren Jahren angemahnt und ist im Entwurf des aktuellen Koalitionsvertrags verankert. Für die regional differenzierte Erhebung des Versorgungsbedarfs, die sektorenübergreifende Planung von Versorgungsstrukturen sowie die Korrektur ungünstiger Muster der Inanspruchnahme werden bevölkerungsbezogene Klassifikationssysteme benötigt, wie sie in verschiedenen Ländern bereits eingesetzt werden. Die Entwicklung eines solchen Klassifikationssystems für den deutschen Versorgungskontext war seit mehreren Jahren überfällig und ist aktuell Gegenstand des PopGroup Projekts: Seit April 2021 arbeitet ein Konsortium unter der Leitung des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen der Technischen Universität Berlin (TUB) gemeinsam mit dem Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (aQua), dem Deutschen Krankenhausinstitut (DKI) und dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi), dem BARMER Institut für Gesundheitssystemforschung (bifg) sowie weiteren Kooperationspartnern an der Entwicklung eines solchen bevölkerungsbezogenen Klassifikationssystems - eines Population Groupers. Ziel der Session ist es, den aktuellen Arbeitsstand des PopGroup Projekts vorzustellen, das bereits auf der DGGÖ in den Jahren 2022 und 2023 dargestellt wurde. Die Session wird einen Überblick geben über (1) die Projektidee und die aktuellen Entwicklungen des PopGroupers, (2) Anwendungserprobungen des PopGroupers zur Analyse des Versorgungsbedarfs, und (3) erste Anwendungserprobungen des PopGroupers für regionale Vergleiche von Qualität und Effizienz. Anschließend werden die methodischen Herausforderungen mit den Teilnehmer:innen diskutiert. Da es sich bei der Entwicklung und Anwendung des PopGroupers um einen iterativen Prozess handelt, können Kommentare und Anregungen bei der Weiterentwicklung des Klassifikationssystems sowie bei den verschiedenen Anwendungserprobungen berücksichtigt werden. Die Einbeziehung weiterer gesundheitsökonomischer Expertise ist dabei explizit gewünscht.

Talks

1. Der PopGrouper: Entwicklung eines bevölkerungsbezogenen Klassifikationssystems zur sektorenübergreifenden Ermittlung des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs
Wilm Quentin, Technische Universität Berlin
Chrissa Tsatsaronis, Technische Universität Berlin

Introduction

Hintergrund: Zur Verbesserung der Bedarfsgerechtigkeit der Versorgung ist die Kenntnis der Verteilung des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs entscheidend. In Deutschland fehlen bisher geeignete Analyseinstrumente dafür. International wird der Versorgungsbedarf häufig mithilfe von bevölkerungsbezogenen Klassifikationssystemen ermittelt. Solche Klassifikationssysteme (Zellenansätze) ordnen jede Person genau einer Gruppe zu, welche durch bestimmte klinische Eigenschaften und einen bestimmten Versorgungsbedarf charakterisiert ist. In diesem Beitrag werden der Hintergrund und die Entwicklung des PopGroupers beschrieben. PopGroups sollen medizinisch sinnvoll sein und Versicherte mit ähnlichem Versorgungsbedarf zusammenfassen (ökonomisch homogen). Methoden: Der PopGrouper wurde unter Einbeziehung medizinischer Expertise und Analysen von GKV-Routinedaten von über 9 Mio. Versicherten der BARMER entwickelt. Im ersten Teil der Entwicklung wurden Zusammengefasste Krankheitsgruppen (ZKGs), die Diagnosen medizinisch sinnvoll gruppieren, definiert und von Expert:innen wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften validiert. Einer Person können mehrere unterschiedliche ZKGs zugeordnet sein. Im zweiten Teil wurden alle Person basierend auf ZKGs und weiteren Merkmalen gemäß eines Zellenmodells in disjunkte Gruppen aufgeteilt. Dafür wurden zunächst übergeordnete Makro-Basis-PopGroups (MBPGs) definiert, die besondere Bedarfsgruppen oder Schweregrade abbilden. Innerhalb der einzelnen MBPGs wurden mittels Entscheidungslisten und Regressionsbäumen und mit Kosten als Zielvariable etwa 400 Basis-PopGroups (BPGs) definiert, die im nächsten Schritt wiederum in etwa 1.000 kleinere PopGroups aufgeteilt wurden. Im letzten Entwicklungsschritt wurden 10 ökonomisch getriebene Meta-PopGroups definiert. Ergebnisse: Erste Versionen des PopGroupers sind bereits definiert und eine dritte Version (V0.3) wird zum Zeitpunkt der Session abgeschlossen sein und präsentiert werden. Anwendungserprobungen sind für verschiedene Bereiche geplant, darunter eine sektorenübergreifende Versorgungsstrukturplanung, regionale Vergleiche von Qualität und Effizienz, die Evaluation von Interventionen und die Überprüfung einer möglichen Nutzung im Case Management. Vorschläge zur Institutionalisierung im deutschen Gesundheitswesen sollen im Jahr 2024 erarbeitet werden. Diskussion: Im weiteren Projektverlauf werden Anpassungen basierend auf den Ergebnissen der Anwendungserprobungen vorgenommen, um den PopGrouper weiter zu optimieren. In der Session sollen erste Ergebnisse und Weiterentwicklungsmöglichkeiten vorgestellt und diskutiert werden.

2. Anwendung des PopGroupers zur Messung des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs
Ulrike Nimptsch, Technische Universität Berlin

Introduction

Hintergrund: Das Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen aus dem Jahr 2018 hat zur Verbesserung der bedarfsgerechten Steuerung der Gesundheitsversorgung eine konsequent an der Morbidität orientierte sektorenübergreifende Bedarfsplanung empfohlen. Gleichzeitig wurde angeraten, die Morbiditätsentwicklung der Bevölkerung sowohl in der ambulanten Bedarfsplanung als auch in der stationären Krankenhausplanung stärker zu berücksichtigen. Der neu entwickelte PopGrouper stellt ein Instrument zur Ermittlung der Morbidität dar, mit dem der (sektorenübergreifende) morbiditätsbezogene Versorgungsbedarf anhand von Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung gemessen werden kann. Methoden: Basierend auf der Klassifizierung von über 9 Mio. Versicherten in PopGroups wird zunächst die durchschnittliche Inanspruchnahme in verschiedenen Versorgungssektoren (ambulant-ärztliche Versorgung, Krankenhausversorgung) pro Kopf in jeder PopGroup ermittelt. Zur Messung des Versorgungsbedarfs in ausgewählten Regionen wird die durchschnittliche bundesweite Inanspruchnahme pro Kopf je PopGroup jeweils mit der Anzahl der Personen je PopGroup in der Region multipliziert und über die PopGroups aufsummiert. Diese (aufgrund der Zusammensetzung nach PopGroups in der betrachteten Region) erwartete Inanspruchnahme wird zu der tatsächlich beobachteten Inanspruchnahme ins Verhältnis gesetzt. Abweichungen zwischen beobachteter und erwarteter Inanspruchnahme können auf eine Unter- oder Überversorgung in bestimmten Versorgungsbereichen hinweisen. Zur Bedarfsplanung können auf Grundlage der beobachteten und erwarteten Inanspruchnahme erforderliche Versorgungskapazitäten (niedergelassene Ärzt*innen, Krankenhausbetten) abgeleitet werden. Ergebnisse: Anhand einer Beispielregion werden sektorenübergreifende Ergebnisse für ausgewählte Versorgungsbereiche präsentiert und zur Diskussion gestellt. Diskussion: Der PopGrouper unterscheidet sich von bestehenden Ansätzen zur Messung des morbiditätsorientierten Versorgungsbedarfs insbesondere durch den hohen Grad der Morbiditätsdifferenzierung. Ziel der hier vorgestellten Anwendungserprobung ist zu prüfen, inwiefern dies einen Beitrag zur Verbesserung der bedarfsgerechten Steuerung der Gesundheitsversorgung leisten kann.

3. Anwendung des PopGroupers für regionale Vergleiche von Qualität und Effizienz
Anika Kreutzberg, Technische Universität Berlin
Chrissa Tsatsaronis, Technische Universität Berlin

Introduction

Hintergrund: Ähnlich wie in anderen Ländern existieren im deutschen Gesundheitssystem regionale Versorgungsunterschiede, die auch auf Über-, Unter- und Fehlversorgung zurückgeführt werden können. Um ungewollte Variationen in der Inanspruchnahme zu identifizieren und Versorgungsgerechtigkeit und Qualität zu verbessern, ist es entscheidend, die regionale Verteilung von Versorgungsmustern zu verstehen. Regionale Vergleichsanalysen stehen jedoch vor der Herausforderung, zu vergleichende Populationen hinsichtlich ihrer Morbiditätsstruktur möglichst vergleichbar zu machen, um beobachtete Versorgungsunterschiede zwischen Regionen auf ungleich verteilte Qualität und Effizienz zurückführen zu können. Dieser Beitrag möchte aufzeigen, inwieweit der PopGrouper dazu beitragen kann den morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarf in regionalen Vergleichsanalysen zu adjustieren, um damit bessere Rückschlüsse auf regionale Qualitäts- und Effizienzunterschiede vornehmen zu können. Methoden: Die Auswahl der betrachteten Indikationen basiert auf dem theoretischen Konzept nach Wennberg (2005), nach dem wir beispielhaft Indikationen wählen für effektive, präferenzsensitive und versorgungssensitive Versorgung. Wir berechnen Intraclass-Koeffizienten basierend auf Mehrebenenmodellen, um zu zeigen, welcher Anteil der beobachteten regionalen Variation auf Ebene der PopGroup, des Patienten, des Krankenhauses und der Region (Kreis) erklärt werden kann. Die Analysen basieren auf Barmer Versichertendaten aus dem Jahr 2019. Pro gewählte Indikation analysieren wir effizienzbezogene Outcomes (z.B. stationäre Verweildauer) und qualitätsbezogene Outcomes (z.B. 30-Tage-Mortalität oder Stroke-Unit Behandlung). Abschließend vergleichen wir die jeweils am besten und am schlechtesten performenden Regionen in ihren Versorgungsmustern. Ergebnisse: Zum Zeitpunkt der Einreichung liegen Ergebnisse zur regionalen Vergleichsanalyse von Patienten mit Schlaganfall vor. Bei der Sitzung werden Ergebnisse weiterer Indikationen vorgestellt. Die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass ein erheblicher Teil der Variation (über 20%) durch die PopGroup-Zuordnung erklärt werden kann. Ein nur geringer Teil kann durch regionale Merkmale insbesondere regionale Deprivation erklärt werden. Der Vergleich der Erklärkraft des PopGroupers zwischen den Kategorien effektive, präferenz- und versorgungssensiblen Versorgung wird nach Analyse weiterer Indikationen erfolgen. Diskussion: Die ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass der PopGrouper einen erheblichen Beitrag leisten kann, den morbiditätsbedingten Versorgungsbedarf in regionalen Vergleichsanalysen abzubilden und damit bessere Rückschlüsse auf ungewollte Variationen in Versorgungsqualität und -effizienz aufzuzeigen