Organisierte Sitzung

IQWiG / dggö - Relevanz der Patientenzahlen im AMNOG Verfahren

Mit dem Arzneimittelmarkneuordnungsgesetz (AMNOG) werden neu zugelassene Arzneimittel un-mittelbar nach der Markteinführung einer frühen Nutzenbewertung (§ 35a SGB V) durch den Ge-meinsamen Bundesausschuss (G-BA) unterzogen. Hierzu reichen die pharmazeutischen Hersteller ein Dossier ein. Dieses enthält neben Angaben zum Zusatznutzen auch Angaben zu den erwarteten Patientenzahlen sowie zu den Jahrestherapiekosten des zu bewertenden Arzneimittels und den zweckmäßigen Vergleichstherapien. Der G-BA kann unter anderem das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit der Bewertung des Dossiers beauftragen. Die Angaben zu den Patientenzahlen und Jahrestherapiekosten (Modul 3) werden dabei regelhaft durch den Bereich Gesundheitsökonomie des IQWiG geprüft. Im Anschluss beschließt der G-BA neben dem Zusatznutzen auch die Patientenzahl sowie die Jahrestherapiekosten für das zu bewer-tende Arzneimittel und die zweckmäßigen Vergleichstherapien. Das Ergebnis der frühen Nutzenbewertung bildet den Ausgangspunkt für sich anschließende Preisverhandlungen zwischen den pharmazeutischen Unternehmern und dem GKV-Spitzenverband. Laut Dossiervorlage des G BA sind die Patientengruppen zu charakterisieren, für die die Behandlung mit dem Arzneimittel gemäß Zulassung infrage kommt (auch „Zielpopulation“ genannt). Die Quantifizierung der Zielpopulation stellt aufgrund der zum Teil schlechten epidemiologischen Da-tenlage in Deutschland häufig eine große methodische Herausforderung dar. Im Rahmen dieser Sitzung soll neben den Vorgaben und Besonderheiten für die Berechnung der Patientenzahlen auch Erfahrungen und die Bedeutung der Patientenzahlen aus den G-BA-Beschlüssen sowie der Versorgungsrealität im Rahmen der Preisverhandlungen (z. B. für die Kalkulation von Mischpreisen) erörtert werden.

Vorträge

Herausforderungen und Erfahrungen des IQWiG bei der Bewertung der Patientenzahlen
Anja Schwalm, IQWiG

Einleitung

Dr. Anja Schwalm, Dr. Corinna ten Thoren (IQWiG) Gemäß den Vorgaben des G-BA ist Anzahl der Patientinnen und Patienten zu quantifizieren, die gemäß der Zulassung für eine Behandlung mit dem neuen Arzneimittel infrage kommen (Zielpopulation). Aufgrund der spezifischen Anwendungsgebiete sind diese Berechnungen in der Regel ein komplexer mehrstufiger Prozess, in dem die Gesamtzahl der Patientinnen und Patienten mit einer Erkrankung schrittweise durch die Kombination von Merkmalen auf die Zielpopulation eingegrenzt wird. Angaben zu diesen Merkmalen (z. B. Stadium der Erkrankung, spezifische Vorbehandlungen) werden dabei häufig aus verschiedenen Quellen gewonnen. Bei diesem Vorgehen ergeben sich methodische Herausforderungen bei der Bewertung der Angaben der pharmazeutischen Hersteller insbesondere dadurch, dass Patientenpopulationen innerhalb derselben Indikation uneinheitlich definiert werden, Merkmale unterschiedlich operationalisiert werden und verschiedene Berechnungswege und Methoden zur Anwendung kommen. Anhand von Beispielen werden die Auswirkungen dieser Aspekte auf die Abschätzung der Zielpopulation näher erläutert und bisherige Erfahrungen im Umgang mit diesen Herausforderungen dargestellt.

Patientenzahlen für Teilpopulationen, Theorie und Empirie
Julian Witte, Universität Bielefeld

Einleitung

Julian Witte, Prof. Dr. Wolfgang Greiner (Universität Bielefeld) Bis Ende 2019 wurde in 439 Nutzenbewertungsverfahren der Zusatznutzen in 870 Anwendungs- bzw. Teilanwendungsgebieten durch den G-BA bewertet. In 47 % aller Verfahren hat der G-BA zur Feststellung des Ausmaßes des Zusatznutzens dabei das zugelassene Anwendungsgebiet in zwei oder mehr Teilpopulationen unterteilt. Entsprechende Daten finden insbesondere Eingang in die sich an die Nutzenbewertung anschließenden Erstattungsbetragsverhandlungen zwischen pharmazeutischem Unternehmer und GKV-Spitzenverband bzw. etwaigen Schiedsverfahren. Da die Frage der Wirtschaftlichkeit eines Erstattungsbetrags bei Arzneimitteln, dessen Anwendungsgebiet in mehrere Teilpopulationen unterteilt ist, ganz wesentlich von einer validen Annahme über die tatsächliche Verteilung der Patientengruppen in der Verordnungspraxis abhängt, kommt der Datenquelle und Methodik zur Abschätzung der Zielpopulation bzw. daraus resultierenden Versorgungsanteilen entscheidende Bedeutung bei. Die Quantifizierung dieser Parameter stellt aufgrund der zum Teil schlechten epidemiologischen Datenlage in Deutschland jedoch häufig eine methodische Herausforderung dar und ist folglich mit Unsicherheit behaftet. Aus diesem Grund beziffert der G-BA in bislang knapp 61 % aller nutzenbewerteten Teilpopulationen die Größe der GKV-Zielpopulation als Spanne. Der Vortrag wird vor diesem Hintergrund indikationsspezifische Unterschiede aufzeigen und die von den Herstellern in den Dossiers genannten Datenquellen diskutieren. Zudem wird basierend auf Abrechnungsdaten der DAK-Gesundheit für Mischpreisprodukte die Abbildbarkeit von G-BA-Teilpopulationen in GKV-Abrechnungsdaten exploriert.

Zur Relevanz der Patientenzahlen aus den G-BA-Beschlüssen und der Versorgungsrealität für die Erstattungsbetragsverhandlungen
Alexander Schurz, GKV-Spitzenverband

Einleitung

Alexander Schurz (GKV-Spitzenverband) Patientenzahlen spielen im AMNOG-Verhandlungskontext, v.a. in Bezug auf die Mischpreis-Thematik, eine wichtige Rolle. Mischpreise werden immer dann von den Verhandlungspartnern gebildet, wenn sich das angemessene Preisniveau für das neue Arzneimittel zwischen den durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bewerteten Teilindikationen unterscheidet. Diese Situation tritt regelmäßig bei zwei Konstellationen auf. Zum einen dann, wenn die Zusatznutzenbewertung des G-BA differenziert ausfällt, also nur für einen Teil der bewerteten Patientengruppen ein Zusatznutzen vorliegt und für andere Patientengruppen hingegen kein Zusatznutzen festgestellt werden konnte. Weiterhin führen auch unterschiedlich hohe Kostenniveaus der zweckmäßigen Vergleichstherapie in unterschiedlichen Patientengruppen zu einem Austausch über die Mischpreis-thematik, also bspw. wenn bei einem Arzneimittel ohne Zusatznutzen in der einen Patientengruppe ein Generikum und in einer anderen Patientengruppe ein teures Patentarzneimittel die zweckmäßige Vergleichstherapie bildet. Insgesamt werden in ca. 2/3 aller Verhandlungsverfahren Mischpreise gebildet. In den Verhandlungen zu einem Mischpreis setzen sich die Parteien regelmäßig mit der Frage aus-einander, welche Patientenzahlen zur Bildung eines Mischpreises heranzuziehen sind. Zur Auswahl stehen grundsätzlich die in den G-BA-Beschlüssen festgehaltenen Patientenzahlen oder Daten aus der Verordnungsrealität. Die G-BA-Zahlen geben ein gutes Abbild über die mögliche Anzahl der mit dem jeweils bewerteten Wirkstoff behandelbaren Patienten und spiegelt somit die Gesamtmarktgröße wieder. Verordnungsdaten können hingegen Aufschluss darüber geben, wie das jeweilige Arzneimittel tatsächlich eingesetzt wird. Aufgrund der zum Teil sehr spezifischen Ausformulierung der Patientengruppen werden oft aufwändige Analysen anhand der 217f-Daten (Daten aus dem Morbi-RSA) durchgeführt, um Aussagen zur tatsächlichen Verteilung auf die entsprechenden Pati-entengruppen zu ermöglichen. Wenn diese Daten nicht geeignet sind, um entsprechende Auswer-tungen durchzuführen, können grudnsätzlich auch andere ergänzende Daten in die Verhandlung eingebracht werden. Die 217f-Daten und auch andere Datenquellen weisen allerdings immer einen Zeitverzug auf, was zumindest in den Erstverhandlungen eine Ermittlung der tatsächlichen Patientenzahlen erschwert. Somit kommt der im G-BA-Beschluss aufgeführten Patientenzahl weiterhin ein hohes Gewicht für die Verhandlung von Mischpreisen zu.

Relevanz der Patientenzahlen im AMNOG-Verfahren – Perspektive der Industrie
Agnes Kisser, Pfizer

Einleitung

Laura Malin Harms*, Dr. Katharina Schley*, Johanna Buncke, Dr. Astrid Genet, Friedhelm Leverkus, Dr. Agnes Kisser (Pfizer) *contributed equally Die Identifikation und Quantifizierung der Zielpopulation ist ein kritischer Schritt bei der Marktein-führung neuer Medikamente. Eine realistische Schätzung der Anzahl und die Charakterisierung jener Patienten, die in Deutschland für eine neue Therapie in Frage kommen, ist wesentlich für eine optimale Versorgung und faire Preisbildung. Häufig erfolgt eine Unterteilung des Anwendungsgebiets durch den G-BA in Patientengruppen mit unterschiedlichen zweckmäßigen Vergleichstherapien oder auch mit unterschiedlichen Ergebnissen in der Nutzenbewertung. Die Einteilung der Patientengruppen durch den G-BA kann durch eine Reihe unterschiedlicher Merkmale erfolgen: neben der Diagnose z.B. auch Einteilung nach Behand-lungsschema, Vortherapien, Alter und Geschlecht oder auch klinischen Kriterien wie Krankheits-schwere und Verlauf. In IQWiG Berichten zur Nutzbarkeit von Versorgungsdaten wurde festgestellt, dass eine eindeutige Abgrenzbarkeit dieser Patientengruppen zwar erforderlich, jedoch basierend auf den in Routine- oder Registerdaten verfügbaren Informationen auch unter Einbindung von Proxies nicht immer möglich ist. Eine weitere Herausforderung ist die Berücksichtigung von medizinischen Durchbrüchen, insbeson-dere in bislang unterversorgten Therapiegebieten. So kann es vor allem bei seltenen Erkrankungen Patienten geben, die nicht diagnostiziert sind oder für die der ICD-10 nicht dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Die Wahrnehmung für eine Erkrankung kann sich mit der Verfügbarkeit einer kausal wirksamen pharmakologischen Therapie ändern und zu einem Anstieg der diagnostizierten Patienten führen. Für die Abschätzung der „Dunkelziffer“ oder eine Prognose der Entwicklung der Diagnoserate gibt es unter Umständen keine Datengrundlage. Hier ist ein erweiterter Datenzugang zu anonymisierten Patientendaten, die sowohl Gesundheits- als auch Behandlungsdaten inklusive Ergebnisse von Diagnoseverfahren beinhalten, wichtig. Ab 2023 wird die Datenspende über die elektronische Patientenakte möglich. Der Datenzugriff soll über ein Forschungsdatenzentrum erfolgen, welches am BfArM lokalisiert werden soll; die privat-wirtschaftliche Forschung hat keine Möglichkeit, diese Daten zu nutzen. Um die Gesundheitsversorgung zu verbessern, müssen die Daten der elektronischen Patientenakte in aufbereiteter und anonymisierter Form der akademischen und privatwirtschaftlichen Versor-gungsforschung zur Verfügung gestellt werden. Außerdem kann damit gezielt die Versorgung und Diagnosemöglichkeiten von besonders gefährdeten Patientengruppen verbessert werden.