Vortragssitzung

Aktuelle Themen des Deutschen Gesundheitswesens 1

Vorträge

Interaktionseffekte zwischen regionalen Corona-Maßnahmen und sozioökonomischen Faktoren: Eine räumlich-statistische Analyse auf Kreisebene
Andree Ehlert, Hochschule Harz

Einleitung / Introduction

Die Studie analysiert den Einfluss regionaler politischer Maßnahmen im Rahmen der COVID-19-Pandemie auf Fall- und Todeszahlen (Kreisebene). Auch nach fast zwei Jahren seit Einführung der ersten Kontaktbeschränkungen ist die statistische Evidenz bevölkerungsbezogener Interventionen (wie u.a. Maskenzwang, Kontaktbeschränkungen) begrenzt. Für die Akzeptanz sowie die epidemiologische, juristische und ökonomische Bewertung der Maßnahmen ist eine statistische Auswertung der vorhandenen räumlichen Datenbasis jedoch von zentraler Bedeutung. Zur Evaluation politischer Maßnahmen sind zudem Wechselwirkungen mit sozioökonomischen und regionsspezifischen Kennzahlen von Interesse, für die in der öffentlichen Diskussion bislang kaum auf belastbare Evidenz zurückgegriffen werden kann.

Methode / Method

Im Rahmen dieser bevölkerungsbezogenen (ökologischen) Studie werden Aggregatdaten der 401 Landkreise mit Hilfe multivariater Modelle der räumlichen Statistik analysiert. Als Outcome dienen die regionalen Fall- und Todeszahlen im Zusammenhang mit COVID-19. Als Prädiktorvariablen werden sowohl politisch verordnete Corona-Maßnahmen (wie z.B. Maskenzwang) auf Kreisebene als auch sozioökonomische Einflussfaktoren (wie u.a. Gesundheits- und Bildungsindikatoren und ökonomische Kennzahlen) einbezogen. Dazu werden u.a. die Daten der Corona-Datenplattform genutzt. Die statistische Methodik berücksichtigt Interaktionseffekte zwischen dem Vorhandensein einzelner Maßnahmen und der sozioökonomischen Struktur der Kreise. Zudem werden in Form von SAR und SAC Modellen räumliche Interdependenzen und Spillover-Effekte der Maßnahmen (auf Nachbarkreise) berücksichtigt.

Ergebnisse / Results

Für Maßnahmen wie z.B. Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen können signifikant (reduzierende) Einflüsse auf das Infektionsgeschehen gefunden werden. Für Schulschließungen und Einschränkungen in der Gastronomie können hingegen nur für Teildatensätze signifikante Effekte gefunden werden. Positive Spillover-Effekte auf Nachbarregionen konnten u.a. für die Maskenpflicht identifiziert werden, welche interessante Hinweise auf den Wirkmechanismus von Corona-Maßnahmen geben. Eine signifikante Interaktion gibt es zudem zwischen der Maskenpflicht und dem Bildungsstand der Bevölkerung.

Zusammenfassung / Conclusion

Die Studie analysiert den Einfluss regionaler politischer Maßnahmen zur Reduzierung des Infektionsgeschehens im Rahmen der COVID-19-Pandemie auf Fall- und Todeszahlen (Kreisebene). Räumliche Wechselwirkungen und Interaktionen mit bevölkerungsbezogenen Daten werden dabei berücksichtigt. Letztere sind insbesondere zur Evaluation bestehender und vorangegangener Politikmaßnahmen von Interesse, für die in der öffentlichen Diskussion bislang kaum auf belastbare Evidenz zurückgegriffen werden kann.


AutorInnen
Andree Ehlert, Hochschule Harz
Bevölkerungspräferenzen in der Organallokation: Ein Discrete Choice Experiment zu Verteilungsgerechtigkeitsprinzipien
Carina Oedingen, Medizinische Hochschule Hannover, Center for Health Economics Research Hannover (CHERH)

Einleitung / Introduction

Organtransplantationen gelten als Goldstandard bei terminalem Organversagen. Während rund 9.000 Patient:innen hierzulande auf ein Spenderorgan warten, konnten im Jahr 2020 lediglich knapp 3.000 postmortale Organe transplantiert werden. Aus diesem absoluten Mangel an postmortalen Spenderorganen, der sich in einem eklatanten Missverhältnis zwischen Nachfrage und Angebot widerspiegelt, resultiert eine notwendige Priorisierung möglicher Organempfänger:innen. Daher ist das Ziel, die Bevölkerungspräferenzen in der Allokation knapper Spenderorgane zu untersuchen und anhand von Verteilungsgerechtigkeitsprinzipien theoretisch einzuordnen.

Methode / Method

Die Präferenzen wurden anhand eines Discrete Choice Experiments erhoben. Durch Vorarbeiten wurden insgesamt sechs Attribute identifiziert: 1. Lebenszeit mit Transplantation (Verteilungsgerechtigkeitsprinzip: effectiveness/benefit), 2. Lebensqualität mit Transplantation (effectiveness/benefit), 3. Weiteres Organangebot (Verteilungsgerechtigkeitsprinzip: medical urgency), 4. Alter (soziale und medizinische Risikofaktoren: sociodemographic status), 5. Spendebereitschaft (Verteilungsgerechtigkeitsprinzip: value for society) und 6. Eigenverschulden (Verteilungsgerechtigkeitsprinzip: own fault). Es wurde ein reduziertes Design mit insgesamt 104 Choice Sets (13 Blöcke je 8 Choice Sets) erstellt, das mittels eines Onlinepanels erhoben wurde. Zur Analyse der Präferenzen wurde ein Conditional Logit, Mixed Logit und eine latente Klassenanalyse gerechnet.

Ergebnisse / Results

Insgesamt nahmen 1.028 Befragte teil. Beinah alle ausgewählten Attribute haben einen signifikanten Einfluss auf die Wahlentscheidung. Eine gute Lebensqualität nach der Transplantation ist das wichtigste Attribut, gefolgt von einem jüngeren Alter und kein Eigenverschulden. Die Attribute Lebenszeit nach Transplantation sowie Spendebereitschaft beeinflussen die Entscheidung weniger. Keinen signifikanten Einfluss hat das Attribut 50 % Chance auf ein weiteres Organangebot, während eine 25 % und 75 % Chance lediglich einen geringen Einfluss haben. Anhand der Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit konnten vier latente Klassen identifiziert werden: Präferenz für Spendebereitschaft („value for society“), gegen Eigenverschul-den („(disregarding) own fault“), für jüngere Patient:innen („sociodemographic status“) und für eine gute Lebensqualität nach Transplantation („effectiveness/benefit“).

Zusammenfassung / Conclusion

Das Discrete Choice Experiment zeigt, dass der Allgemeinbevölkerung die Erfolgsaussichten im Sinne einer guten Lebensqualität nach der Transplantation sowie einem jüngeren Alter der Patient:innen bei der Organallokation am wichtigsten ist. Die medizinische Dringlichkeit ist von untergeordneter Bedeutung. Eine höhere Akzeptanz der Organallokation kann zu einer tatsächlichen Erhöhung des Organangebots beitragen.


AutorInnen
Carina Oedingen, Medizinische Hochschule Hannover, Center for Health Economics Research Hannover (CHERH)
Tim Bartling, Medizinische Hochschule Hannover, Center for Health Economics Research Hannover (CHERH)
Harald Schrem, Transplantationszentrum, Medizinische Universität Graz
Axel C. Mühlbacher, Hochschule Neubrandenburg, Duke University
Christian Krauth, Medizinische Hochschule Hannover, Center for Health Economics Research Hannover (CHERH)
Determinanten krankheitsbedingter Fehlzeiten: Dominanzanalyse eines Mehrebenenmodells
Kai Svane Blume, Bergische Universität Wuppertal

Einleitung / Introduction

Hohe krankheitsbedingte Fehlzeiten und Arbeitsunfähigkeit sind mit beträchtlichen Kosten verbunden und stellen sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf organisationaler Ebene eine Belastung dar. Zwar wurden in der empirischen Forschung bereits zahlreiche individuelle und arbeitsbezogene Faktoren als Determinanten krankheitsbezogener Fehltage identifiziert, jedoch mangelt es an Ergebnissen zur relativen Wichtigkeit von modifizierbaren und nicht-modifizierbaren Einflussfaktoren. Ziel dieser Studie ist es, in einem ganzheitlichen Ansatz Determinanten von Fehlzeiten auf der Mikro- und Makroebene zu untersuchen und nach ihrer relativen Wichtigkeit zu differenzieren.

Methode / Method

Zu diesem Zweck werten wir Personaldaten einer großen dänischen Kommunalverwaltung aus, die Personen in der klassischen Verwaltung sowie in den Bereichen Bildung und Gesundheit umfassen. Personalbefragungen aus den Jahren 2016 und 2020 (Rücklauf je ca. 3.000 Mitarbeitende) geben Aufschluss über potenzielle Determinanten von Fehlzeiten auf individueller und organisationaler Ebene. Dazu zählen Informationen zum Arbeitsumfeld, der Beschaffenheit von Aufgaben, physischen und psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, Arbeitszufriedenheit sowie zu individueller Gesundheit und Risikofaktoren. Für das Jahr 2020 können außerdem Determinanten in Verbindung mit der Corona-Pandemie (z.B. Erkrankung/Symptome der Person oder in ihrem Umfeld, Angst vor Ansteckung) ausgewertet werden. Um Common Source und Common Method Bias auszuschließen, verwenden wir als abhängige Variable Informationen zu Fehlzeiten aus den offiziellen Statistiken des Personalregisters. Die relative Wichtigkeit der Determinanten untersuchen wir mittels Dominanzanalysen auf Basis von Mehrebenenmodellen (Mitarbeitende geclustert in organisationalen Einheiten).

Ergebnisse / Results

Unsere bisherigen Ergebnisse auf Basis der Daten von 2016 zeigen, dass insbesondere Mobbing und Gewalt am Arbeitsplatz als Determinante von krankheitsbezogenen Fehlzeiten eine hohe Relevanz haben. Diese Variable dominiert 12 der 14 anderen Determinanten des Basismodells vollständig und erlangt für 13 Determinanten bedingte Dominanz. Weitere relevante modifizierbare Faktoren umfassen die mentale Arbeitsbelastung, die Zufriedenheit mit der Arbeitsumgebung und die Unterstützung durch das Kollegium. Weniger relative Erklärungskraft für Fehlzeiten besitzen die intrinsische und extrinsische Arbeitsmotivation sowie die Unterstützung durch Vorgesetzte.

Zusammenfassung / Conclusion

Insgesamt zeigen unsere Ergebnisse, dass krankheitsbezogene Fehlzeiten von einer Vielzahl an Determinanten auf der Mikro- und Makroebene bestimmt werden. Maßnahmen zur Reduktion von Fehlzeiten, die gezielt auf die Determinanten mit der höchsten relativen Wichtigkeit ausgerichtet werden, könnten einen erheblichen gesellschaftlichen Einfluss haben.


AutorInnen
Kai Blume, Bergische Universität Wuppertal
Vera Winter, Bergische Universität Wuppertal
Signe Pihl-Thingvad, Syddansk Universitet
Umsetzung der Strukturreform der Psychotherapie-Richtlinie; Ergebnisse aus Fokusgruppen mit Psychotherapeut*innen, Patient*innen und Vertreter*innen von Kostenträgern
Anke Walendzik, University Duisburg-Essen

Einleitung / Introduction

Psychische Erkrankungen verursachen sowohl hohe individuelle als auch gesellschaftliche Belastungen. Zentrales Ziel der Strukturreform der Psychotherapie-Richtlinie von 2017 in Deutschland war die verbesserte Steuerung des Zugangs von Patient*innen zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung. Die hier vorgestellten Fokusgruppen, die im Rahmen des durch den Innovationsfonds geförderten Forschungsprojekts „Evaluation der Psychotherapie-Richtlinie (Eva PT-RL)“ durchgeführt wurden, adressierten explorativ die Zielerreichung der Strukturreform, die Umsetzung der einzelnen neu eingeführten Versorgungselemente sowie Hürden und Hemmnisse bei der Implementierung aus der Perspektive von psychotherapeutischen Leistungserbringer*innen, Patient*innen und Kostenträgern.

Methode / Method

Es wurden sechs Fokusgruppen und fünf Einzelinterviews mit Personen der drei genannten Stakeholder-Gruppen, für die Psychotherapeutinnen differenziert nach behandelter Patientengruppe, Kindern und Jugendlichen oder Erwachsenen, durchgeführt. Grundlage waren auf Basis einer strukturierten Literaturrecherche erstellte halbstrukturierte Gesprächsleitfäden. Die Fokusgruppen wurden von einem Moderatorinnenteam per Videokonferenz durchgeführt, audiovisuell aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Die Auswertung erfolgte mittels des Programms MAXQDA über eine qualitative Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring.

Ergebnisse / Results

ine allgemein positive Beurteilung insbesondere hinsichtlich des Erstzugangs zur psychotherapeutischen Versorgung erfuhr die psychotherapeutische Sprechstunde. Jedoch wurde ein verzögerter Übergang zur ggfs. folgenden Richtlinien-Psychotherapie insbesondere aufgrund Kapazitätsmangels kritisch diskutiert. Es wurden günstige Effekte der telefonischen Erreichbarkeitszeiten sowie eine verstärkte Vernetzung der psychotherapeutischen Versorgung auch zu anderen psychosozialen Angeboten angesprochen. Der Grad der Umsetzung der Akutbehandlung und der Rezidivprophylaxe wurde eher als gering angesehen. Als zentrales Ergebnis zeigte sich, dass der Anstoß zum Paradigmenwechsel von einer rein individuellen Perspektive auf eine allgemeine Versorgungsorientierung von den Psychotherapeut*innen durchaus unterschiedlich wahrgenommen und umgesetzt wird.

Zusammenfassung / Conclusion

Angesichts der sehr variablen Strategien zur Umsetzung der Strukturreform durch die Psychotherapeut*innen, der Kritik an der Ausgestaltung einzelner Reformelemente und der Diskussion um Verzögerungen beim Zugang zur Richtlinientherapie aus der psychotherapeutischen Sprechstunde besteht weiterer Forschungsbedarf. Die Ergebnisse der Fokusgruppen dienen insofern als Grundlage für die folgenden Projektschritte, u.a. einer Befragung von Psychotherapeut*innen, hausärztlich tätigen Ärzt*innen und Patient*innen.


AutorInnen
Anke Walendzik, University Duisburg-Essen
Carina Abels, University Duisburg-Essen
Sandra Diekmann, EsFoMed GmbH
Silke Neusser, EsFoMed GmbH
Sarah Schlierenkamp, EsFoMed GmbH
Jürgen Wasem, University Duisburg-Essen