Organisierte Sitzung

Klassifikation des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs

Das deutsche Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen. Die Gesellschaft altert, chronische Krankheiten nehmen zu, und es bestehen simultan Probleme von Unter-, Über- und Fehlversorgung der Bevölkerung. Bereits vor der Corona-Pandemie haben verschiedene Gutachten auf einen Reformbedarf an der ambulanten Bedarfsplanung sowie der Krankenhausplanung hingewiesen. Eine Wende zu einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung wird seit mehreren Jahren angemahnt und ist im Entwurf des aktuellen Koalitionsvertrags verankert. Für die regional differenzierte Erhebung des Versorgungsbedarfs, die sektorenübergreifende Planung von Versorgungsstrukturen sowie die Korrektur ungünstiger Muster der Inanspruchnahme werden bevölkerungsbezogene Klassifikationssysteme benötigt, wie sie in verschiedenen Ländern bereits eingesetzt werden. Die Entwicklung eines solchen Klassifikationssystems für den deutschen Versorgungskontext war seit mehreren Jahren überfällig, um eine empirische Grundlage für die Bearbeitung vieler drängender gesundheitspolitischer Fragestellungen zu schaffen. Vor diesem Hintergrund hat ein Konsortium unter der Leitung des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen der Technischen Universität Berlin gemeinsam mit dem Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (aQua), dem Deutschen Krankenhausinstitut (DKI) und dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi), dem BARMER Institut für Gesundheitssystemforschung (bifg) sowie weiteren Kooperationspartnern im Rahmen des PopGroup Projekts die Entwicklung eines solchen bevölkerungsbezogenen Klassifikationssystems - eines Population Groupers - in Angriff genommen. Ziel der Session ist es, zunächst einen Überblick zu geben über (1) die konzeptionellen Überlegungen zur Architektur des Groupers, (2) die Klassifikation von Diagnosen in medizinisch sinnvolle Zusammengefasste Krankheitsgruppen (ZKGs), und (3) die methodischen Ansätze und Herausforderungen bei der Entwicklung von medizinisch sinnvollen und ökonomisch homogenen Basis-PopGroups und PopGroups vorzustellen. Anschließend werden die methodischen Herausforderungen mit den Teilnehmer:innen diskutiert. Da es sich bei der Entwicklung des PopGroupers um einen iterativen Prozess handelt, können Kommentare und Anregungen bei der weiteren Entwicklung des Klassifikationssystems berücksichtigt werden. Die Einbeziehung weiterer gesundheitsökonomischer Expertise ist explizit gewünscht.

Vorträge

Entwicklung eines bevölkerungsbezogenen Klassifikationssystems zur sektorenübergreifenden Ermittlung des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs
Wilm Quentin, Technische Universität Berlin

Einleitung

Hintergrund: Eine wesentliche Voraussetzung zur Verbesserung der Bedarfsgerechtigkeit der Versorgung ist die Kenntnis der Verteilung des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs. In Deutschland existieren dafür bisher keine geeigneten Analyseinstrumente. International wird der Versorgungsbedarf häufig mithilfe von bevölkerungsbezogenen Klassifikationssystemen ermittelt, wie z.B. den Adjusted Clinical Groups (ACGs) oder den Clinical Risk Groups (CRGs). Solche Klassifikationssysteme (Zellenansätze) ordnen jeden Versicherten genau einer Gruppe zu, welche durch bestimmte klinische Eigenschaften (z.B. Diagnosen, Multimorbidität, Alter) und einen bestimmten Versorgungsbedarf charakterisiert ist. Methoden: Die Entwicklung eines bevölkerungsbezogenen Klassifikationssystems im Rahmen des PopGroup Projekts erfolgt in einem iterativen Prozess. Dabei werden sowohl medizinische Expertise berücksichtigt als auch Ergebnisse von Analysen der GKV-Routinedaten der BARMER. Aufbauend auf dem für den Morbi-RSA definierten Vollmodell der Dx-Gruppen (DxGs) (Festlegung für das Ausgleichsjahr 2021) werden medizinisch sinnvolle sogenannten Zusammengefasste Krankheitsgruppen (ZKGs) definiert. Anschließend werden ausgehend von den ZKGs sich gegenseitig ausschließende Basis-PopGroups und nach Schweregrad weiter stratifizierte endständige PopGroups gebildet, denen ein Versicherter genau einmal zugeordnet werden kann. Diese sollen sowohl medizinisch sinnvoll als auch bzgl. ihres aktuellen Versorgungsbedarfs vergleichbar (ökonomisch homogen) sein. Im letzten Schritt werden größere Meta-PopGroups (voraussichtlich <10 Gruppen) mit ähnlichem Ressourcenverbrauch gebildet. Ergebnisse: Die Definition eines ersten Satzes von ZKGs ist weitestgehend abgeschlossen und wird in den nächsten Wochen durch medizinische Experten validiert. Aktuell läuft die Definition von Basis-PopGroups, wobei unterschiedlicher Methoden des „unsupervised“ und/oder „supervised learnings“ zum Einsatz kommen können (z.B. Cluster- bzw. CART Analysen). Im Frühjahr und Sommer 2022 sollen erste Anwendungserprobungen des PopGroupers erfolgen, u.a. für die Planung von Versorgungsstrukturen, für regionale Vergleiche von Qualität und Effizienz der Versorgung oder für die Evaluation von Interventionen. Diskussion: Neben der methodischen Arbeit ist auch die Einbeziehung von Vertretern der für die Krankenhausplanung zuständigen Behörden der Länder, der Landeskrankenhausgesellschaften, der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen vorgesehen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der PopGrouper, von Akteuren in Politik/Behörden, Selbstverwaltung, und Wissenschaft mittelfristig verwendet werden kann, um die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern.

Bildung von Zusammengefassten Krankheitsgruppen
Maria Klemt, Technische Universität Berlin
Karen Kinder, Technische Universität Berlin

Einleitung

Hintergrund: In diesem Beitrag soll die Bildung der Zusammengefassten Krankheitsgruppen (ZKGs) beschrieben werden. ZKGs fassen Diagnosen in medizinisch sinnvollen Gruppen zusammen. Im Zentrum stehen Krankheitsbild und Versorgungsbedarf einer Krankheit/Krankheitsgruppe, unabhängig von Medikation, Ursache und Alter. Den Ausgangspunkt für die Bildung der ZKGs stellen die bereits durch den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) definierten 1.074 Diagnosegruppen (DxGs) dar. Methoden: In einem ersten Arbeitsschritt wurden Makro-Krankheitsgruppen (MKGs) gebildet, um die große Zahl von DxGs in wenigen Blöcken zusammenzufassen und somit übersichtlichere Arbeitspakete zu erzeugen. Dafür wurde auf die Hierarchien des Morbi-RSA und die Major Disease Categories (MDCs) des CRG-Systems zurückgegriffen. Standen mehrere Gruppierungsmöglichkeiten zur Option, wurde die kleinteiligere gewählt. Hieraus ergaben sich insgesamt 32 MKGs. Anschließend wurden 6 Kriterien für die Zuordnung von DxGs zu ZKGs entwickelt und von 2 Personen angewendet. Diese waren: (1) Alter, (2) Ressourcenverbrauch, (3) Ursache < Wirkung, (4) Bezeichnung, (5) Geschlecht, (6) Lokalisation. Zusätzlich wurden die DxGs bzgl. Ätiologie und Krankheitsverlauf auf Basis des Pschyrembels charakterisiert. Schließlich wurden die so gebildeten ZKGs von bis zu 5 Personen, anhand weiterer Kriterien und Parameter überprüft: medizinische Homogenität, Indikatoren stationärer und ambulanter Inanspruchnahme, Übersterblichkeit, Prävalenz, verschiedene Kostenarten, Ätiologie sowie Krankheitsverlauf. Die betrachteten Kennzahlen lagen aggregiert auf DxG-Ebene vor und stammten aus Analysen mit GKV-Routinedaten von 9 Mio. Versicherten. Ergebnisse: Im ersten Zuordnungsschritt wurde mithilfe der sechs erwähnten Kriterien eine Anzahl von 556 ZKGs gebildet. Unter Berücksichtigung der zusätzlichen Kennzahlen und Charakteristika konnten noch einmal viele DxGs zu ZKGs zusammengefasst werden. Gleichzeitig wurden einige aufgrund der Zuordnungskriterien gebildete ZKGs aufgelöst, wenn sich die Kennzahlen verschiedener DxGs innerhalb dieser ZKGs zu sehr unterschieden. Im Ergebnis konnte die Anzahl der ZKGs auf 366 reduziert wurde. Diskussion: Derzeit werden mit Hilfe der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V (AWMF) medizinische Expert:innen rekrutiert, um die medizinische Sinnhaftigkeit der gebildeten ZKGs zu validieren. Hierfür werden aktuell die Unterlagen zusammengestellt und in einem Pretest-verfahren getestet. Leitfragen für die Expert:innen der Fachgesellschaften sind die medizinische und klinische Sinnhaftigkeit der ZKGs unter Berücksitigung des Versorgungsbedarfs und der Krankheitsschwere.

Bildung von Basis-PopGroups - Methodische Herausforderungen
Anna Braun, aQua Institut
Thomas Grobe, aQua Institut

Einleitung

Hintergrund: Das Ziel des Beitrags ist es, die im Rahmen der Entwicklung des PopGroupers erwägbaren Vorgehensweisen sowie die damit einhergehenden Herausforderungen zu beleuchten und zu diskutieren. Um eine empirische Grundlage für eine sektorenübergreifende Versorgungsbedarfsplanung zu schaffen, sollen distinkte Gruppen von Personen gebildet werden, die sich möglichst hinsichtlich ihrer klinischen Eigenschaften ähneln und ökonomisch homogen sind. Methoden: Die Entwicklung der PopGroups soll auf den zuvor gebildeten voraussichtlich 366 ZKGs aufbauen, welche jeweils inhaltlich relevante Erkrankungsgruppen darstellen. Einer Person können dabei mehrere unterschiedliche ZKGs zugeordnet sein. Basierend auf diesen Informationen zu (ggf. auch Kombinationen von) Erkrankungen bzw. ZKGs sollen Personen mit PopGroups gemäß eines Zellenmodells in distinkte Gruppen aufgeteilt werden. Für die Bildung der PopGroups können sogenannte „unsupervised“ und „supervised learning methods“ zum Einsatz kommen (z.B. Cluster- bzw. CART Analysen). In einem ersten Schritt sollen dabei zunächst etwa 300 bis 400 sogenannte Basis-PopGroups (BPG) gebildet werden, welche anschließend auch anhand erkrankungsunabhängiger Merkmale potenziell noch in Subgruppen aufgeteilt werden sollen. Ergebnisse: Herausforderungen bei der Methodenwahl ergeben sich aus der umfangreichen Stichprobe von über 9 Mio. Versicherten, aus der Skalierung der zugrundeliegenden Merkmale sowie der Zahl angestrebter BPGs. Aus diesem Grund fallen Gruppierungsmethoden wie die hierarchische oder k-Means Clusteranalyse von Beginn an raus. Zwar wäre die hierarchische Clusteranalyse vom Grundprinzip ein geeignetes Mittel, um Personengruppen mit ähnlichen ZKG-Kombinationen zu identifizieren, jedoch ist sie aufgrund ihres Vorgehens des zeilenweisen Vergleichs für große Stichproben ungeeignet. Potenziell geeignete Methoden, die aktuell auf ihre Anwendbarkeit geprüft werden, sind bspw. (1) die Two-Stage-Density Clusteranalyse sowie der (2) A-priori-Algorithmus. (1) Nutzt ein zweistufiges Verfahren, indem zunächst eine Verdichtung der Fälle auf Pre-Cluster stattfindet, welche durch hierarchisch-agglomerative Methoden zusammengefasst werden. (2) Sucht nach häufigen Mustern, aus denen in einem weiteren Schritt Regeln abgeleitet werden. Ferner bieten sich nicht-statistischen Methoden an, indem zunächst die x-häufigsten Kombinationen von ZKGs identifiziert und in BPG überführt werden. Diskussion: Aktuell werden im Projekt unterschiedliche Vorgehensweisen zur Bildung von PGs geprüft und ggf. umgesetzt und diskutiert. Die Ergebnisse dieser einer oder auch mehrerer Varianten zu BPGs sollen im Rahmen der Session vorgestellt und – auch mit Blick auf ihre Eignung für die später intendierte Nutzung – diskutiert werden.