Vortragssitzung

Gesundheitssysteme und Reformen

Vorträge

Optimierungspotential bei der HIV-Diagnosestellung in Deutschland
Frederik Valbert, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen

Einleitung / Introduction

Eine frühzeitige Diagnose der Erkrankung von Menschen, die mit dem Humanen Immundefizient-Virus (HIV) infiziert sind, stellt in Deutschland weiter eine Herausforderung für die Versorgung dar. Late Presenter (LP), d.h. spät im Krankheitsverlauf diagnostizierte HIV-Infizierte, sind charakterisiert durch eine niedrige CD4-Zellzahl (<350 pro Mikroliter) und/oder eine AIDS-definierende Erkrankung. Dies ist mit einem erhöhten Risiko negativer gesundheitlicher Folgen für den Betroffenen, einem erhöhten Transmissionsrisiko und negativen gesundheitsökonomischen Effekten verknüpft.

Methode / Method

In der FindHIV-Studie wurden mit einem Mixed-Methods-Ansatz in einem ersten Schritt Primärdaten zu Personen mit HIV-Erstdiagnose in Deutschland gesammelt und analysiert. Darauf aufbauend wurde ein Scoringinstrument entwickelt, das ein HIV-Test-Angebot unterstützen soll. Anschließend wurde das Scoringinstrument mit verschiedenen Expertengruppen diskutiert und optimiert.

Ergebnisse / Results

Es konnten zwischen Januar 2019 und Mai 2020 Daten zu 706 Patienten mit HIV-Erstdiagnose in 40 bundesweit verteilten Studienzentren aus dem ambulanten und stationären Bereich erhoben werden. Der Anteil der LP lag bei 55%. Bei 45% aller Studienteilnehmer sah der Studienarzt retrospektiv mindestens eine Chance, bei der die HIV-Infektion früher hätte erkannt werden können. In der Gruppe der LP war dies sogar bei 58% der Fall. Die häufigsten Anlässe für Kontakte zum Gesundheitssystem, die als verpasste Gelegenheit einer früheren Diagnose gewertet wurden, waren in absteigender Reihenfolge: Gewichtsverlust, Indikator-/HIV-assoziierte Erkrankungen, Fieber und Nachtschweiß, sonstige Erkrankungen und sexuell übertragbare Erkrankungen.

Zusammenfassung / Conclusion

In der FindHIV-Studie konnte gezeigt werden, dass Indikatoren vorhanden sind, die geeignet sind, ein angepasstes HIV-Testangebot zu befördern und somit die LP-Rate in Deutschland zu reduzieren. Dies würde helfen, die Vorgaben bzgl. Diagnosestellung, Behandlung und Virussuppression der 95-95-95-Ziele des Gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV/AIDS (UNAIDS) zu erreichen, die Progression bei Betroffenen zu verhindern, die Anzahl an HIV-Transmissionen zu reduzieren und gegebenenfalls Kosteneinsparungen im Gesundheitssystem zu realisieren.


AutorInnen
Frederik Valbert, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen
Eva Wolf, MUC Research GmbH, München
Stefan Preis, ClinovateNET GmbH & Co KG, München
Knud Schewe, Infektionsmedizinisches Centrum Hamburg, Hamburg
Nikola Hanhoff, Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (DAGNÄ) e.V., Berlin
Birgit Mück, MUC Research GmbH, München
Paul Lauscher, MUC Research GmbH, München
Christine Kögl, MUC Research GmbH, München
Silke Neusser, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen
Robin Rüsenberg, Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (DAGNÄ) e.V., Berlin
Markus Bickel, Infektiologikum Frankfurt, Frankfurt
Ramona Pauli, Isarpraxis, München
Christoph Stephan, Universitätsklinik Frankfurt am Main, Frankfurt
Jürgen Wasem, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen
Sven Schellberg, Novopraxis Berlin GbR, Berlin
Anja Neumann, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen
Komorbiditäten im RSA - aktueller Sachstand
Sylvia Demme, BAS
Dorothee Heimann, BAS
Sonja Schillo, BAS

Einleitung / Introduction

Mit dem GKV-FKG wurden mehrere große Änderungen im Morbi-RSA eingeführt. Unter anderem wurde das System ab dem Ausgleichsjahr (AJ) 2021 auf ein Vollmodell umgestellt. Es werden nicht mehr nur 80 Erkrankungen berücksichtigt, sondern es wird das vollständige Morbiditätsspektrum bei der Berechnung der Zuweisungen an die Krankenkassen herangezogen. Einige Akteure haben die Sorge geäußert, dass durch die gestiegene Zahl an berücksichtigten Erkrankungen auch die durch Ko- und Multimorbiditäten bedingten Überdeckungen steigen. Das BAS hat die Berücksichtigung von Komorbiditäten systematisch analysiert, um diese zielgenauer im Morbi-RSA abzubilden. In der Folge wurden bei der Überarbeitung des RSA-Modells für das AJ2022 entsprechende Anpassungen in der Klassifikation vorgenommen.

Methode / Method

Das Ausgangsmodell für das AJ2022 enthielt 495 Morbiditätsgruppen (HMGs), so dass insgesamt 244.530 HMG-HMG-Kombinationen möglich waren. Um diese systematisch zu analysieren und problematische Kombinationen zu identifizieren, wurde eine neue Kennzahlen-Systematik entwickelt. Hierfür wurden zum einen die Odds Ratios der einzelnen Kombinationen berechnet. Eine hohe Odds Ratio ist ein Hinweis auf häufig gleichzeitig dokumentierte ICD-Kodes, die in verschiedenen HMGs einsortiert werden. Dies stellt an sich kein Problem dar. Erst wenn auch die Gesamtdeckung, der Deckungsbeitrag und die Deckungsquote mit betrachtet werden, kann eine Bewertung vorgenommen werden, ob es sich um eine „problematische“ Komorbidität im Sinne des RSA handelt. Mit Blick auf die Komplexität konzentrierte sich das BAS bei der Anpassung der Hierarchien des Modells AJ2022 auf hierarchieinterne auffällige HMG-HMG Kombinationen.

Ergebnisse / Results

Die Analyse der Kennzahlen zeigte mehrere hierarchieinterne Komorbiditäten auf, die mit nennenswerten Überdeckungen der betroffenen Versichertengruppen einhergingen. So bestand bspw. in der Hierarchie der zerebrovaskulären Erkrankungen eine deutliche Fehldeckung bei Versicherten mit zerebralen Blutungen und Hemiplegie/Hemiparese. Bei Überarbeitung des Modells können solche Probleme durch die Zusammenlegung einzelner HMGs und/oder die Zusammenlegung ganzer Hierarchiestränge gelöst werden. Im Beispiel wurden 2 Stränge zusammengelegt, 4 HMGs aufgelöst und es gab dennoch eine geringfügige Verbesserung der Modellkennzahlen durch diese Anpassungen.

Zusammenfassung / Conclusion

Vor dem Hintergrund der Einführung des Vollmodells wurde ein Analysesystematik entwickelt, mit Hilfe derer bestehende Komorbiditäten und die bei den betroffenen Versicherten bestehenden Fehldeckungen systematisch identifiziert werden können. Auf Basis dieser Systematik wurde das Morbi-RSA Modell für das AJ2022 umfassend angepasst. Dies führte zu einer Verschlankung des Modells bei gleichzeitiger Verbesserung der Kennzahlen.


AutorInnen
Rüdiger Wittmann, BAS
Merle Schüller, BAS
Sylvia Demme, BAS
Dorothee Heimann, BAS
Sonja Schillo, BAS
Quantifizierung intersektoraler Versorgungspotentiale und ihre ökonomische Bewertung
Andreas Schmid, Oberender AG / Universität Bayreuth

Einleitung / Introduction

Der Begriff der Ambulantisierung orientiert sich im deutschen Gesundheitswesen in der Regel an der dichotomen Struktur der Krankenhausversorgung auf der einen und der vertragsärztlichen Versorgung auf der anderen Seite. Dabei wird ignoriert, dass alternative intersektorale Versorgungsangebote – z.B. in Form bettenführender Einrichtungen ohne durchgehende ärztliche Präsenz im Sinne Intersektoraler Gesundheitszentren – strukturelle Veränderungen darstellen, die es erlauben, ein deutlich größeres Fallvolumen aus dem Krankenhaus zu verlagern. Ziel des Beitrags ist es, dieses Fallpotential für eine „Erweiterte ambulante Versorgung“ zu quantifizieren und ökonomisch zu bewerten.

Methode / Method

Aufbauend auf einem medizinisch hergeleiteten Spektrum hierfür geeigneter Fälle wird auf Basis unterschiedlicher Datenquellen (u.a. InEK G-DRG-Browser und G-DRG-Begleitforschung, destatis DRG-Statistik, Qualitätsberichte der Krankenhäuser) in einer umfassenden Modellierung ein korrespondierendes DRG-Spektrum abgeleitet. Verschiedene Szenarien mit unterschiedlichen medizinischen und strukturellen Restriktionen erlauben die Quantifizierung der Potentiale. Differenziert auf Ebene der einzelnen DRGs wird mit Hilfe der InEK-Kostenmatrix der korrespondierende Aufwand ermittelt und einem an der EBM-Logik orientierten ambulanten Vergütungsvolumen gegenübergestellt.

Ergebnisse / Results

Ausgehend von knapp 400 geeigneten ICDs ergeben sich rund 3.000 mögliche ICD-DRG-Kombinationen, die mithilfe von 9 Szenarien abgeschichtet werden. Eine isolierte medizinische Bewertung führt zu einem Korridor zwischen 2 und 4 Millionen Fällen, die grundsätzlich für eine derartige intersektorale Versorgung geeignet sind. Die Kombination mit Restriktionen zu verfügbaren Behandlungskapazitäten erlaubt eine weitere Differenzierung, die von rund 90.000 Fällen – bei einer zweistelligen Anzahl derartiger Zentren – über rund 800.000 Fälle in einem als neutral bewerteten Szenario bis zu den vier Mio. Fällen reicht, wenn das komplette medizinische Potential realisiert wird. Erfolgt die ökonomische Bewertung auf Basis des neutralen Szenarios ergibt sich eine Einsparung in Höhe von rund 1,4 Mrd. Euro im stationären Sektor, der rund 1 Mrd. Euro für die Versorgung im intersektoralen Setting gegenüberstehen.

Zusammenfassung / Conclusion

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass ein substantielles Fallvolumen existiert, das sich für eine Versorgung in derartigen Versorgungsstrukturen eignet. Selbst bei konservativen medizinischen Annahmen ist dieses ausreichend hoch, um einen wirtschaftlichen Betrieb zu ermöglichen. Zugleich ist ein Kostenniveau unter dem der stationären Versorgung zu erwarten, bei deutlicher Entlastung der benötigten ärztlichen Ressourcen. Die Ergebnisse sind für die weitere gesundheitspolitische Diskussion zu Strukturreformen von hoher Relevanz.


AutorInnen
Andreas Schmid, Oberender AG / Universität Bayreuth
Heidrun Sturm, IAIV, UK Tübingen
Edgar Drechsel-Grau, IAIV, UK Tübingen
Florian Kaiser, Oberender AG
Philipp Leibinger, Oberender AG
Stefanie Joos, IAIV, UK Tübingen