Vortragssitzung

Versorgungsforschung 1

Vorträge

Interventionen in Übereinstimmung mit bestehenden Leitlinien am Beispiel der augenärztlichen Kontrolluntersuchungen bei Diabetes mellitus zwischen 2009 und 2019 anhand von Abrechnungsdaten
Anne Spranger, Technische Universität Berlin

Einleitung / Introduction

Leitlinienkonforme Versorgung ist die Fähigkeit eines Gesundheitssystems, den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft und medizinischer Evidenz in das tatsächliche Versorgungsgeschehen umzusetzen. Im Folgenden wird leitliniengerechte Versorgung durch den Anteil an Personen gemessen, die die empfohlene augenärztliche Kontrolle bei einer Diabetes-Diagnose im Zeitraum von 2009 bis 2019 wahrgenommen haben. Personen mit diagnostiziertem Diabetes mellitus können im Verlauf ihrer Erkrankung diabetesassoziierte Augenerkrankungen erleiden (z.B. Sehbehinderung, diabetische Retinopathie). Die leitliniengerechte Versorgung, die auch im Disease Management Programm (DMP) festgehalten ist, empfiehlt eine jährliche bzw. mindestens zweijährliche augenärztliche Untersuchung, die der frühzeitigen Diagnostik von Veränderungen und der ggf. notwendigen Anpassung der Basistherapie sowie der Durchführung der augenärztlichen Therapie dienen soll.

Methode / Method

Die folgenden Analysen basieren auf pseudonymisierten bundesweiten und krankenkassenübergreifenden vertragsärztlichen Abrechnungsdaten der Jahre 2009 bis 2020. Es wurden alle Personen eingeschlossen, die in mindestens zwei Quartalen des Betrachtungsjahres eine als gesichert dokumentierte Diagnose eines Diabetes mellitus aufweisen. Unter diesen Personen wurde der Anteil ermittelt, bei dem im Betrachtungs- oder Folgejahr mindestens ein Arztbesuch der Fachgruppe Augenheilkunde abgerechnet wurde (identifiziert durch Abrechnungen nach Kapitel 6 EBM). Die Auswertung erfolgte zudem nach Altersgruppen gestaffelt.

Ergebnisse / Results

Im Jahr 2019 wurden 6,64 Mio. Personen mit einer gesicherten Diabetes-Diagnose identifiziert. Dies entspricht einem Anstieg um 27,5% im Vergleich zum Jahr 2009. Mehr als ein Viertel der von Diabetes betroffenen Personen war zwischen 70 und 79 Jahre alt (26,8%), weitere 24,4% zwischen 60 und 69 Jahre alt. Insgesamt stiegen zwar die Arztbesuche von Diabetikern bei Augenärzten, die im Jahr 2018 einen Höchstwert von 4,74 Mio. erreichten (3,92 Mio. im Jahr 2009), aber weniger stark als die Anzahl an Diabetikern. Somit sank die Kontaktrate von Diabetikern bei Augenärzten – wie in der leitliniengerechten Versorgung vorgeschrieben – von 75,1% im Jahr 2009 kontinuierlich auf 70,7% im Jahr 2019. Die Kontaktrate ist stark altersabhängig. Die höchste Kontaktrate ist mit 81,9% bei Patienten im Alter von 10-19 Jahren und die niedrigste bei Personen im Alter von 90-99 Jahren (58,9%) zu erkennen.

Zusammenfassung / Conclusion

Die leitliniengerechte Versorgung von Personen mit Diabetes empfiehlt eine (mindestens) jährliche augenärztliche Untersuchung. Dies wurde im Jahr 2019 nur noch von 70,7% der entsprechenden Personen wahrgenommen. Der Trend ist seit 2009 trotz steigender Teilnahmezahlen am DMP rückläufig.


AutorInnen
Anne Spranger, Technische Universität Berlin
Katharina Achstetter, Technische Universität Berlin
Miriam Blümel, Technische Universität Berlin
Victoria Schwarzbach, Technische Universität Berlin
Sandra Mangiapane, Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung
Reinhard Busse, Technische Universität Berlin
Long-term evaluation of outcomes and costs of ureteroscopy, extracorporeal shockwave lithotripsy, and percutaneous nephrolithotomy after urolithiasis
Claudia Schulz, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Einleitung / Introduction

For urinary tract stones with a lifetime prevalence of 10%, intervention choices may be: Ureteroscopy (URS) with hardly any contraindications, extracorporeal shockwave lithotripsy (SWL) with fewer complications, but a worse stone-free rate, and percutaneous nephrolithotomy (PCNL), which entails a high stone-free rate, but more complications than URS. As urinary tract stones are likely to reoccur, stone-free rates, health care costs and sick leave days in the long run are highly relevant. Yet, existing literature mainly focused on a short follow-up. Therefore, we investigated URS, SWL and PCNL regarding recurrent treatments, health care costs and sick leave days over a seven-year follow-up.

Methode / Method

This retrospective cohort study was based on German health insurance claims data. We included all AOK insurants who were incidentally treated with URS, SWL or PCNL in 07/2007-12/2010. We investigated time to re-intervention, number of sick leave days and health care costs due to urolithiasis from a payer perspective within seven years. We applied negative binomial, extended Cox regression and gamma models and adjusted for patient variables.

Ergebnisse / Results

There were 54,609 urolithiasis patients, of which 29,441 (54%) were treated with URS, 21,848 (40%) with SWL and 3,320 (6%) with PCNL. Mean age was 52.6 years and 65% were male. 15% of URS, 26% of ESWL and 23% of PCNL patients were repeatedly treated due to recurrent urolithiasis within 7 years. Time to first re-intervention, was 1,078 days for URS, 937 days for SWL and 955 days for PCNL patients. Costs for incident treatment was significantly (p<.0001) higher for PCNL (EUR 2,495) and lower for SWL (EUR 1,240) than for URS (EUR 1,294) patients. Yet, total costs for incident and all recurrent treatments were significantly (p<.0001) higher for patients incidentally treated with PCNL (EUR 5,796) or SWL (EUR 3,247) than with URS (EUR 2,970). The total number of sick leave days were significantly (p<.0001) increased for PCNL (363.6 days) and SWL (48.2 days) than for URS (34.8 days).

Zusammenfassung / Conclusion

URS patients showed benefits in terms of a long time free of re-interventions and few sick leave days. Although SWL patients initially had lower costs, URS patients caused lower costs in the long run, presumably due to the lower re-intervention rate. PCNL patients showed high health care costs and sick leave days, but a lower re-intervention rate than SWL. Our results emphasize URS as most frequent treatment choice for urolithiasis patients. Our study is limited by the data source, as claims data do not fully capture all relevant information relevant for the treatment choice, e.g. stone size. Thus, we cannot rule out a selection bias, and our results are not causal effects of the treatment, but correlations for patients for whom the treatment was chosen.


AutorInnen
Claudia Schulz, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Hans-Helmut König, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Entwicklung eines Qualitätsindikatorensets für die ambulante Versorgung von Gon- und Coxarthrose: Eine Systematische Literaturrecherche
Tobias Bock, Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie, Technische Universität München

Einleitung / Introduction

Die aktuelle Versorgungssituation von Menschen mit Gon- bzw. Coxarthrose in Deutschland ist geprägt von überdurchschnittlich hohen Implantationsraten von Totalendoprothesen. Potenziell fehlgesetzte finanzielle Anreize und eine den Leitlinienempfehlungen gegenläufige bzw. unzureichende Ausschöpfung der ambulanten Therapiemöglichkeiten werden hierbei diskutiert. Qualitätsindikatoren können in diesem Kontext dazu dienen, die Qualität der evidenzbasierten Versorgung von Gon- und Coxarthrose zu messen und transparent darzustellen. Der dadurch im Rahmen von Audit und Feedback ermöglichte Vergleich kann dazu führen, dass die ambulante Versorgung vor einem möglichen Gelenkersatz effektiver erfolgt. Bestehende Qualitätsindikatorensets fokussieren häufig das Entlassmanagement nach der Gelenkersatzoperation und/oder erfordern zusätzliche Datenerhebungen. Ziel der vorliegenden Studie ist es daher, durch eine systematische Literaturrecherche ein evidenzbasiertes Qualitätsindikatorenset für die ambulante Versorgung von Gon- und Coxarthrose zu entwickeln, welches auf Basis von Routinedaten berechenbar ist.

Methode / Method

Die Literatursuche wurde in den Datenbanken Pubmed, Cochrane Library, Web of Science, Scopus und PEDro durchgeführt. Ziel war die Identifikation von Publikationen aus dem Zeitraum 2000 bis 2021, die bereits definierte Qualitätsindikatoren berichten, sowie klinischer Studien, die die Evidenz ambulanter Therapieoptionen vor einem Gelenkersatz untersuchen. Die Studienselektion und -bewertung wurden von zwei unabhängigen Personen durchgeführt. Die Indikatoren werden basierend auf den Kriterien Praktikabilität, Risikoadjustierung, Diskriminationsfähigkeit sowie Berechenbarkeit auf Routinedaten zusammengestellt.

Ergebnisse / Results

Der Literaturexport aus den Datenbanken ergab 11.069 Treffer als Ausgangsbasis. Aktuell ist die erste Sichtungsphase abgeschlossen. Daraus geht hervor, dass unter 10% der eingeschlossenen Publikationen über Qualitätsindikatoren für die ambulante Arthrosebehandlung berichten, wohingegen eine Vielzahl von Studien über ambulante Therapieoptionen vorliegt. Insbesondere die Wirksamkeit medikamentöser und bewegungstherapeutischer sowie physikalischer und alternativmedizinischer Therapieansätze wird untersucht. Nach Abschluss der zweiten Sichtungsphase wird für die ableitbaren Qualitätsindikatoren jeweils ein Datenblatt mit Informationen über die Evidenz und Details zur Berechnung erstellt.

Zusammenfassung / Conclusion

Für die ambulante Behandlung von Gon- und Coxarthrose gibt es bislang nur wenige Qualitätsindikatoren. Die meisten dieser Indikatoren erfordern zusätzliche Datenerhebungen und können nicht auf Basis von Routinedaten berechnet werden. Die umfassende Literatur zu den verschiedenen ambulanten Therapieoptionen liefert jedoch Ansatzpunkte zur Ableitung möglicher Qualitätsindikatoren.


AutorInnen
Tobias Bock, Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie, Technische Universität München
Ronja Flemming, Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie, Technische Universität München
Leonie Sundmacher, Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie, Technische Universität München
Pharmacy based metrics zur Bestimmung der Komorbidität - Ein Update
Udo Schneider, Techniker Krankenkasse

Einleitung / Introduction

Komorbiditäten stellen für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen einen wichtigen Faktor dar. In der Versorgungsforschung existieren verschiedene Möglichkeiten, Komorbiditäten für Versicherte zu bestimmen. Neben Ansätzen auf Basis von diagnostizierten Symptomen (ICD10-Codes) wie z.B. nach Elixhauser oder Charlson hat sich auch die Nutzung von Verordnungsdaten (ATC-Codes) im Rahmen der Pharmacy based metrics (PBM) nach Kuo et al. etabliert. Der Vorteil der PBMs liegt in der schnelleren zeitlichen Datenverfügbarkeit und einer Unabhängigkeit von einer zumindest unsicheren Diagnosequalität, v.a. im ambulanten Bereich. Die verwendeten ATC-Codes beruhen auf Listen aus dem Jahr 2009 und decken daher viele innovative Arzneimittel (z.B. Biologika) nicht ab. Die vorliegende Arbeit stellt eine Erweiterung auf die Datenbasis 2021 dar.

Methode / Method

Um auf Basis von Arzneimittelverordnungen Komorbiditäten bestimmen zu können, muss der betrachtete Wirkstoff eindeutig einer Indikation zugeordnet werden können. Neben der Betrachtung neu zugelassener Wirkstoffe sind daher auch Indikationserweiterungen von Interesse. In einem ersten Schritt wurden daher neue Codes aus den 32 betrachteten Indikationsgebieten auf Basis der ATC-Listen von 2021 ermittelt und diese in einem zweiten Schritt hinsichtlich einer eindeutigen Zuordnung geprüft. Auf Basis einer 1%-Zufallsstrichprobe der Techniker Krankenkasse wurde anschließend verglichen, inwieweit die Änderungen in den ATC Codes zu Verschiebungen im Output der PBMs (d.h. die Anzahl Versicherter pro Indikationsgebiet) führen.

Ergebnisse / Results

Von 772 neuen ATC-Codes wurden 434 als indikationsspezifisch einbezogen, alle anderen explizit ausgeschlossen. Bei 29 der 32 Indikationsgebiete waren Anpassungen notwendig. Der Vergleich der PBMs vor und nach dem Update basierte auf 102.565 Versicherten. In 18 Indikationsgebieten konnten Verschiebungen ausgemacht werden. Hierbei ist der Anteil an Versicherten in neun Indikationsgebieten gestiegen und in neun gesunken. Die größten positiven Veränderungen fanden sich bei Transplantationen (+31%), Blutverdünnern (+66%) und Hepatitis (+1684%). Die Indikationsgebiete mit den drei größten negativen Veränderungen waren Herzinsuffizienz (-10%), Glaukom (-18%), sowie Schmerzmittel (-47%).

Zusammenfassung / Conclusion

Die Aktualisierung der zugrundeliegenden ATC-Codes zeigt Verschiebungen bei der Einordnung der Versicherten in die einzelnen Indikationsgebiete. Die Veränderungen basieren auf neu zugelassenen Wirkstoffen, aber auch auf Ausschlüssen aufgrund einer Indikationserweiterung bei vorhandenen Wirkstoffen. Somit erscheint eine regelmäßige Aktualisierung notwendig. Noch offen sind die konkrete Anwendung auf unterschiedliche Versichertenkollektive und die Einschätzung der Aussagekraft des Updates gegenüber der ursprünglichen Liste.


AutorInnen
Anna-Katharina Böhm, Universität Hamburg
Udo Schneider, Techniker Krankenkasse