Vortragssitzung

Aktuelle Themen des Deutschen Gesundheitswesens 2

Vorträge

Ein Ansatz zur nutzenbasierten Preisbildung bei digitalen Gesundheitsanwendungen
Daniel Gensorowsky, Universität Bielefeld - Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement (AG5)

Einleitung / Introduction

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) wurde im Dezember 2019 ein Leistungsanspruch für Versicherte in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf die Versorgung mit Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) eingeführt. Damit einhergehend wurde ein dem AMNOG-Verfahren für neue Arzneimittel ähnelndes Bewertungs- und Preisbildungsverfahren für DiGAs geschaffen. Nach Bewertung der Erstattungsfähigkeit durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sieht der Prozess im ersten Jahr eine freie Preissetzung durch den Hersteller und daran anschließend Vergütungsbetragsverhandlungen zwischen GKV-Spitzenverband und Hersteller vor.

Methode / Method

Die gesetzlichen und untergesetzlichen Maßgaben rücken die im Zuge der BfArM-Bewertung nachgewiesenen positiven Versorgungseffekte (pVE) – i.S.v. medizinischem Nutzen und patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserungen in der Versorgung – als im Besonderen zu berücksichtigende Preisbemessungskriterien in den Fokus der Verhandlungen. Vorgaben oder etablierte Methoden zur Bestimmung des Ausmaßes der pVE existieren bislang jedoch ebensowenig wie solche zu ihrer Überführung in einen angemessenen nutzenbasierten Preis. Ziel ist die Vorstellung und Diskussion eines Ansatzes zur praktischen Umsetzung einer nutzenbasierten DiGA-Preisbildung.

Ergebnisse / Results

Der Preisbemessungsansatz sieht die Herleitung eines angemessenen, nutzenbasierten Preises für eine DiGA auf Grundlage der verfügbaren Evidenz zu ihren pVE sowie beobachtbaren historischen Zahlungsbereitschaften für andere etablierte und zu Lasten der GKV erstattungsfähige Leistungen im jeweiligen Anwendungsgebiet vor. Zur Beurteilung der Angemessenheit eines DiGA-Listenpreises werden anhand standardisierter Effektstärken (inkrementelle) Kosten-Nutzen-Verhältnisse von DiGAs und Vergleichstherapien gebildet und zueinander ins Verhältnis gesetzt. Aus den nachgewiesenen Effekten der DiGAs sowie den etablierten Zahlungsbereitschaften für die Vergleichstherapien lassen sich Indifferenzpreise ermitteln, bei denen eine DiGA das gleiche Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen würde wie ihre Vergleichstherapie. Um Unsicherheiten über Kosten und Nutzen der zu vergleichenden Therapieoptionen abzubilden, können im Rahmen von Szenarioanalysen sowohl verschiedene Effekt- als auch Kostenspannen berücksichtigt werden.

Zusammenfassung / Conclusion

Die nutzenbasierte Preisfindung bei DiGAs ist Neuland für alle beteiligten Verhandlungsparteien. Das vorgeschlagene pragmatische Vorgehen kann objektivierende quantitative Orientierungspunkte zur Beurteilung der Angemessenheit von DiGA-Preisen liefern und damit die Entscheidungsfindung im Rahmen der Preisverhandlungen unterstützen. Weitere Überlegungen sind jedoch notwendig, um die vielfältigen Nutzendimensionen der pVE sinnvoll in die Preisbemessung einfließen zu lassen.


AutorInnen
Daniel Gensorowsky, Universität Bielefeld - Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement (AG5)
Julian Witte, Vandage GmbH
Manuel Batram, Vandage GmbH
Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld - Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement (AG5)
Anreize zur Vermeidung von nosokomialen Infektionen aus Krankenhaussicht
Dirk Sauerland

Einleitung / Introduction

Nosokomiale Infektionen (NI) stellen ein großes Problem im Gesundheitssystem dar – sowohl für die Patienten als auch für die Krankenhäuser. Neuere Studien zeigen, dass sich etwa 35-55 % dieser Infektionen durch geeignete Maßnahmen vermeiden lassen (Schreiber et al 2018). Aus diesem Grund hat sich die Zahl der Hygieneärzte in deutschen Krankenhäusern von 2011-2016 verdoppelt. In der gleichen Zeit ist die Prävalenz in deutschen Krankenhäusern von 4,6 auf 3,6 % zurückgegangen (Behnke et al 2017). Wir untersuchen auf Basis von Krankenhausroutinedaten die Erlöse, die Krankenhäusern durch vermeidbare Infektionen entgehen (Opportunitätskosten), weil Betten durch die Behandlung von infizierten Patienten blockiert werden.

Methode / Method

In der Abteilung „Orthopädie / Unfallchirurgie“ eines Akutkrankenhauses in NRW wurden in 2018/2019 insgesamt 2.518 Fälle erfasst. Davon waren 85 Fälle von nosokomialen Infektionen betroffen. Für diese Fälle wurden aus dem Controlling Daten über Alter, Geschlecht, Aufnahme- und Entlassdatum, ICD-10-Daten sowie die Gesamterlöse pro Fall zur Verfügung gestellt. Anhand des Jahresbasisfallwerts wurden alle Erlöswerte auf das Jahr 2018 zurückgerechnet. Die Berechnungen erfolgten jeweils für den Rohdatensatz sowie für einen um statistische Ausreißer berichtigten Datensatz. Die entgangenen Erlöse pro Bettentag, der für NI-Fälle blockiert wurde, wurde in Anlehnung an Sandman et al. (2018) als Differenz zwischen den potentiellen Erlösen, die mit der Behandlung nicht-infizierter Fälle hätten realisiert werden können und den tatsächlich realisierten Erlösen bei NI-Fällen berechnet. Dazu wurden die durchschnittlichen Erlöse pro Tag für NI- und Normalfälle, die durchschnittliche Verweildauer der NI-Fälle sowie der Auslastungsgrad der Station zugrundegelegt.

Ergebnisse / Results

Im Rohdatensatz ergeben sich durchschnittliche Erlöse pro Tag für NI-Fälle in Höhe von 817 €; für nicht-infizierte Fälle liegt der Wert bei 1.286 €. Daraus ergeben sich bei der durchschnittlichen Verweildauer der 85 erfassten NI-Fälle von 23,8 Tagen und einer Auslastung der Station von 82,5 % entgangene Erlöse in Höhe von 5.806 € pro Fall. Geht man davon aus, dass zwischen 33 und 55 % der Infektionsfälle vermeidbar sind, resultieren daraus hochgerechnet entgangene Erlöse auf der betrachteten Station zwischen 182.845 € und 287.328 € (Jahresbasisfallwert 2020).

Zusammenfassung / Conclusion

Angesichts der hohen Erlöse, die aufgrund von blockierten Betten für die Behandlung von NI-Fällen nicht für die Behandlung von anderen Patienten genutzt werden können, haben Krankenhäuser gute Anreize zur Vermeidung von nosokomialen Infektionen. Die Anreize sind umso höher, je höher die Auslastung der Station ist. Sie steigen ebenfalls an, wenn für die Behandlung eines NI-Falls gegebenenfalls auch ein Zweibettzimmer freigehalten werden muss.


AutorInnen
Andrè Clement
Meike Neuwirth
Does paid parental leave affect infant and maternal health?
Fanny Schmeißner, Hamburg Center for Health Economics, Universität Hamburg

Einleitung / Introduction

Maternity and parental leave regulations have been the subject of policy decisions in many OECD countries. Germany implemented a new parental leave reform in 2007. The reform replaced a means-tested benefit system on household level with parental leave benefit based on the pre-birth net income, which substantially increased parental leave benefits for most parents. Furthermore, the reform extended parental time after childbirth. While in 2006, 23 percent of mothers were still employed after birth, the number of women in employment fell to 12 percent in 2008. Previous evidence suggests a positive relationship between paid maternal leave and mental wellbeing of a woman. Furthermore, maternal mental illness can have serious and long-lasting consequences for children. Therefore, we aim at identifying the impact of this reform on parental assessment of infant health and maternal mental health within the first three months after birth.

Methode / Method

Representative survey data from the German Socio-Economic Panel Study (SOEP) from 2004 through 2011 were used. The exogenous policy variation was used as a natural experiment to identify intervention and control groups. Identification was based on the mother's pre-birth employment status and annual net household income. Women in the control group were entitled to a monthly payment of €300 in both systems, while women in the intervention group were eligible for monthly financial benefits of €300 to up to €1,800 for the first time due to the reform. We applied a two period linear probability model within a difference-in-difference (DiD) approach to estimate the causal effect on infant health or on maternal mental health within the first three months after birth. As we move forward, the model will be further adjusted and other health outcomes (e.g. infant weight, SF-12) will be added.

Ergebnisse / Results

Preliminary results suggest a significant positive reform effect on parental assessment of infant health with a reduction of the probability of poor infants’ health by 12.26 percentage points (parental assessment). In addition, we found a positive (+4.56 percentage points) but non-statistical significant effect on maternal mental health within three months after birth. As part of the sensitivity analyses, changes were made to group assignment criteria e.g., broader definition of pre-birth employment status, greater income thresholds or exclusion of certain subgroups. Overall, sensitivity analyses show robustness of our results for both outcomes.

Zusammenfassung / Conclusion

We identified a positive effect on infant health. Statements about concrete mechanisms of action are yet not possible. These results are in line with recent research evidence indicating a decline in infant mortality and premature birth rate, as well as an increase in birth weight.


AutorInnen
Fanny Schmeißner, Hamburg Center for Health Economics, Universität Hamburg
Tom Stargardt, Hamburg Center for Health Economics, Universität Hamburg
Fundamentally Reforming the Public DI System: Evidence from German Notch Cohorts
Nicolas Ziebarth

Einleitung / Introduction

This paper comprehensively evaluates a fundamental reform of the public Disability Insurance (DI) system in Germany. Effective 2001, cohorts born after 1960 are no longer eligible for “occupational DI.” Occupational DI (ODI) implies benefit eligibility if employees are no longer able to work in their previous occupation. For the affected notch cohorts, the new general DI eligibility rules require that their reduced work capacity must prevent them from working in any job. Using administrative statutory pension insurance data, we first show that the reform significantly reduced the inflow of new DI beneficiaries by 20% for males and 10% for females. Next, we validate these findings using representative SOEP household panel data comprised of the entire underlying population and not just DI inflows. Moreover, at least at the population level, we do not find a significant overall increase in the likelihood to work full-time among notch cohorts, but some evidence for reduced subjective well-being. Next, using representative data on old age saving motives and health, we find no evidence that the notch cohorts purchased individual private ODI policies at higher rates to compensate for the reduced generosity in the public DI system. However, we do find evidence that a series of structural public pension reforms substantially increased demand for private old-age insurance among younger people in general. As German private ODI policies are individually underwritten and not guaranteed issue, we find strong selection based on observables—and also what are typically unobservables—into the relatively big private ODI market in Germany. While around 40% of younger cohorts have private ODI coverage, sick individuals are significantly less likely to be covered, as are individuals who expect to die young due to bad health and an unhealthy lifestyle. Those who believe it would be crucial to save for old age and unexpected life events purchase private ODI at much higher rates. By contrast, liquidity constrained households purchase private ODI at significantly lower rates. Finally, we categorize uninsured ODI households into three groups: (i) a third who are close to retirement and thus have low demand for private coverage despite being relatively healthy and wealthy, (ii) a quarter who are young but sick and low-income and thus cannot purchase private policies, and (iii) the remaining group of middle-aged households.


AutorInnen
Johannes Geyer, Cornell University