Organisierte Sitzung

Veränderungen in der Versorgung psychisch Erkrankter

Organisierte Sitzung des Ausschusses für Versorgung und Vergütung (Vorsitz: Phillippe Diserens) Die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten große Veränderungen hin zu De-Institutionalisierung, Patientenzentrierung und gemeinde-näherer Versorgung erfahren, dennoch bleiben verschiedene Herausforderungen ersichtlich. Zum einen werden immer noch viele Patienten vollstationär versorgt. Zum anderen ist eine gute Koordination der Versorgung der Menschen durch die Fragmentierung der Zuständigkeiten und Zersplitterung der Finanzierung stark erschwert. Daher sind Konzepte zur adäquaten Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, d.h. eine kontinuierliche und settingübergreifende Versorgung, sinnvoll und notwendig. Seit 2012 ist es möglich, Modellvorhaben gemäß § 64b SGB V zu vereinbaren. Ziele dieser Modellvorhaben sind u.a. eine verbesserte Patientenversorgung durch eine sektorenübergreifende Behandlung. Gesetzliche Krankenversicherungen (GKV) verhandeln mit psychiatrischen Krankenhäusern und selbstständig geleiteten Fachabteilungen ein einheitliches Budget für ihre Patienten. Dabei entscheidet der Leistungserbringende bzw. die Klinik über die Art der Behandlung, um diese stärker an den Bedürfnissen des Patienten ausrichten zu können. Seit 2013 wurden 22 solcher Modellvorhaben an psychiatrischen Krankenhäusern in Deutschland etabliert, bei denen meist ein globales Behandlungsbudget vereinbart wurde. Dieses versteht sich als Kombination aus Blockverträgen und Pro-Kopf-Finanzierung, bei der das Krankenhaus ein Gesamtbudget für alle Formen der stationären und krankenhausbasierten ambulanten Versorgung erhält. Der gesetzlichen Verpflichtung (§ 65 SGB V) folgend beauftragten 2015 über 70 GKVen die bundesweite Evaluation von 18 Modellvorhaben („EVA64“). Neben modellspezifischen einzelnen Berichten zu Wirksamkeit und Kosten liegen nun modellübergreifende Ergebnisse der Abschlussberichte zu dieser kontrollierten, sekundärdatenbasierten Kohortenstudie vor. Es werden zum einen Ergebnisse zu Veränderungen der Behandlung der Patienten und zum anderen zu Veränderungen in den Kosten der Behandlung dargestellt. Weiterhin wird das Datenmanagement näher erläutert. In einer weiteren Studie („PsychCare“) werden neben GKV-Daten auch quantitative und qualitative Primärdaten multiperspektivisch und -methodisch zur Evaluation der Modellvorhaben untersucht und zum Teil individuell verlinkt. Patientenberichtete Outcomes wie Lebensqualität und Behandlungszufriedenheit sowie Kostenaspekte aus einer gesellschaftlichen Perspektive werden vorgestellt.

Vorträge

Veränderung der Behandlung in psychiatrischen Kliniken mit Modellvorhaben zur patientenzentrierten Versorgung und globalem Budget (§ 64b SGB V) – Modellübergreifende Ergebnisse aus 12 Abschlussberichten der Evaluationsstudie EVA64
Anne Neumann, Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden

Einleitung

Autoren: Anne Neumann1, Jochen Schmitt1, Martin Seifert1, Roman Kliemt², Denise Kubat³, Dennis Häckl², Andrea Pfennig4, Enno Swart³, Fabian Baum1 (Vortragende unterstrichen) 1 Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden 2 Wissenschaftliches Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystem-forschung (WIG2), Leipzig 3 Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung (ISMG), Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg 4 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Hintergrund: In der Evaluation EVA64 werden die Effektivität, Kosten und Kosteneffektivität von 18 Modellvorhaben in einer kontrollierten GKV-sekundärdatenbasierten Kohortenstudie evaluiert. Methoden: Ergebnisse von Patienten mit Einschluss in die Evaluation im ersten bis dritten Modelljahr und zweijähriger Nachbeobachtung wurden für die Zielparameter voll- und teilstationäre Behandlungsdauer, Anzahl Kontakte in Psychiatrischer Institutsambulanz (PIA) und Behandlungskontinuität für 12 Modellvorhaben, für die bereits bis Sommer 2021 ein Abschlussbericht vorlag, in einer Metaanalyse gegenübergestellt. Dabei wurden die Werte vor Einschluss in die Evaluation mit dem ersten bzw. zweiten patientenindividuellen (pat.ind.) Jahr sowie zwischen den Modellvorhaben und der Regelversorgung verglichen. Es wurden alle Patienten betrachtet, die in den zwei Jahren vor Einschluss in die Evaluation, d.h. erste Behandlung ab Modellbeginn, keine Behandlung in der Referenzklinik aufwiesen. Ergebnisse: Vollstationäre Behandlungstage wurden in der Mehrheit der Modellkliniken (n=8) im ersten pat.ind. Jahr im Vergleich zur Regelversorgung verringert (θk = -5,1; 95% KI: -9,2; -1,1). Teilstationäre Behandlungstage wurden in der Mehrheit der Modellkliniken (n=7) im ersten pat.ind. Jahr vermehrt in Anspruch genommen. PIA-Kontakte wurden im ersten pat.ind. Jahr in fünf Modellkliniken mehr und in fünf weniger in Anspruch genommen. In Modellvorhaben mit höherer PIA-Kontaktierung war die Inanspruchnahme teilstationärer Behandlungstage geringer als in der Regelversorgung und umgekehrt. Die Behandlungskontinuität stieg in einigen Modellvorhaben stärker als in der Regelversorgung. Diskussion: Strukturelle Veränderungen hin zu weniger voll- und mehr teilstationären Behandlungstagen bzw. Kontakten in der PIA sind ersichtlich. Das Modellziel einer erhöhten Behandlungskontinuität konnte bei den meisten Modellvorhaben erreicht werden. Insgesamt weist die Evaluation auf das Erreichen untersuchter Modellziele hin.

Gesundheitsökonomische Evaluation psychiatrischer Kliniken mit Modellvorhaben nach § 64b SGB V – Modellübergreifende Ergebnisse aus 12 Abschlussberichten der Evaluationsstudie EVA64
Roman Kliemt, Wissenschaftliches Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystem-forschung (WIG2), Leipzig

Einleitung

Autoren: Roman Kliemt1, Christopher Schrey2, Luong Hoang1, Martin Seifert3, Anne Neumann3, Fabian Baum3, Denise Kubat4, Enno Swart4, Jochen Schmitt3, Dennis Häckl1 1 Wiss. Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystem-forschung (WIG2), Leipzig 2 ehemals WIG2, jetzt Deloitte Consulting 3 Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden 4 Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung (ISMG), Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Hintergrund: Kernelement der sich auf die Anreizstrukturen der Behandlung auswirkenden vertraglichen Ausgestaltung der Modellvorhaben nach § 64b SGB V ist das Zusammenlegen des Budgets für stationäre Krankenhausbehandlung und der Erlöse der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) zu einem gemeinsamen, globalen Budget. Methoden: Es werden Patienten (N = 36 069) betrachtet, deren Studieneinschluss innerhalb der ersten drei Jahre nach Beginn des jeweiligen Modellvorhabens lag. Zielparameter sind der Patientenmix als Anteile von Patienten innerhalb der einzelnen Behandlungssettings bzw. Kombinationen daraus im einjährigen Vorbeobachtungszeitraum, der Behandlung im Indexfall sowie der Nachbeobachtungsperioden. Weiterhin werden die in den Abrechnungsdaten enthaltenen Behandlungskosten aus GKV-Perspektive für die Bereiche der voll- sowie teilstationären Versorgung, der PIA-Behandlung sowie weiterer Versorgungsbereiche und gesamthaft für die psychiatrische Versorgung in den jeweiligen Beobachtungsperioden einer Difference-in-Difference-Betrachtung unterzogen. Die Bewertung der Effizienz erfolgt über das inkrementelle Kosteneffektivitätsverhältnis (ICER). Ergebnisse: Die Differenz der Anstiege der gesamten psychiatrischen Versorgungskosten fiel in 5 Modellvorhaben signifikant geringer aus; im gepoolten Effekt ergab sich kein signifikanter Unterschied. Bei den vollstationären Versorgungskosten ist eine Tendenz eines geringeren Anstiegs erkennbar, bei den teilstationären Kosten war der gepoolte Anstieg tendenziell höher gegenüber der Regelversorgung. Im Rahmen der PIA-Versorgung ließ sich keine eindeutige Wirkrichtung feststellen. Die Analyse des Patientenmixes ergab einen deutlichen Rückgang des Anteils vollstationär versorgter Patienten hin zu einer höheren Ambulantisierung. Diskussion: Das Schaffen eines globalen Budgets wirkt sich den Ergebnissen zufolge insofern aus, als dass eine stärkere Ambulantisierung sowie geringere Versorgungskosten im vollstationären Bereich ersichtlich sind. Die Ergebnisse sind jedoch vor dem Hintergrund zu diskutieren, dass es sich um Abrechnungsdaten handelt, bei denen Teile der Ergebnisvariation auf Preiseffekte zurückzuführen sind. Hierzu werden weitere Analysen durchgeführt.

Wirksamkeit von Modellvorhaben gemäß § 64b SGB V aus Patientenperspektive: Design und erste Ergebnisse der PsychCare-Studie
Anne Neumann, Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden

Einleitung

Autoren: Anne Neumann1, Bettina Soltmann4, Fabian Baum1, Roman Kliemt², Denise Kubat³, Dennis Häckl², Enno Swart³, Julian Schwarz5, Sebastian von Peter5, Yuriy Ignatyev6, Martin Heinze5,6, Jochen Schmitt1, Andrea Pfennig4 1 Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden 2 Wissenschaftliches Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystem-forschung (WIG2), Leipzig 3 Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung (ISMG), Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg 4 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden 5 Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane, Immanuel Klinik, Rüdersdorf bei Berlin 6 Zentrum für Versorgungsforschung Brandenburg, Medizinische Hochschule Brandenburg, Neuruppin, Deutschland Hintergrund: Kontrollierte und modellübergreifende Evaluationen, die patientenorientierte Outcomes erfassen, lagen bisher nicht vor. Die Studie "PsychCare" kombiniert quantitative und qualitative Primärdaten mit Routine-Krankenkassendaten, um die Wirkungen der § 64b-Vorhaben aus der Perspektive von Patienten, Angehörigen und Leistungserbringern mit der Routineversorgung zu vergleichen. Methoden: Es wurde eine kontrollierte, prospektive, multizentrische Kohortenstudie mit drei Datenerhebungspunkten durchgeführt (Follow-up nach 9 und nach 15 Monaten). Insgesamt 18 Kliniken (10 §64b-Modellkliniken und 8 gematchte Kontrollkliniken) haben Patient:innen mit Sucht, affektiven oder schizophrenen Störungen, Kinder mit Verhaltensstörungen und Jugendliche / junge Erwachsene mit Essstörungen rekrutiert. Primäre Endpunkte sind Unterschiede in der Veränderung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und der Behandlungszufriedenheit. Ergebnisse: Zu Beginn der Erhebung bestanden 18 psychiatrische Modellvorhaben in Deutschland, von denen 9 Kliniken an der PsychCare-Studie teilnahmen und zur Baseline-Erhebung eine Befragung von insgesamt 1.183 Studienteilnehmern gewährleistete. Die Inanspruchnahme ambulanter bzw. teilstationärer Behandlung war in den Kliniken mit Modellvorhaben höher als in solchen der Regelversorgung. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass Patient:innen der Modellkliniken sowohl eine höhere gesundheitsbezogene Lebensqualität als auch Behandlungszufriedenheit bei vergleichbarer Erkrankungsschwere zu Baseline aufweisen.

Impact of flexible and integrative psychiatric care models in Germany on healthcare resource use and costs for patients with mental disorders – results from the PsychCare study
Tarcyane Barata Garcia, Wissenschaftliches Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystem-forschung (WIG2), Leipzig

Einleitung

Authors: Tarcyane Barata Garcia1, Roman Kliemt1, Ines Weinhold 1, Enno Swart2, Denise Kubat2, Anne Neumann3, Bettina Soltmann4, Andrea Pfennig4, Dennis Häckl1 (Vortragende unterstrichen) 1 Wissenschaftliches Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystem-forschung (WIG2), Leipzig 2 Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung (ISMG), Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg 3 Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden 4 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Background: Mental disorders are regarded as a worldwide public health concern which impose a substantial burden on patients and their families. Recently patient-centered, cross-sectoral health care models for mentally ill patients have been introduced in Germany, based on a Global Treatment Budget according to § 64b German Social Code Book V. This study aimed to describe in detail the resources used, and costs of care associated with such flexible and integrative psychiatric treatment (FIT) models compared to usual care. Methods: “PsychCare” is a controlled prospective multicenter cohort study conducted in 18 psychiatric hospitals in Germany (10 FIT64b model and 8 matched control hospitals). Participants with pre-specified common and/or severe psychiatric disorders were recruited. Data were retrospectively collected using the German adaption of the Client Sociodemographic and Service Receipt Inventory (CSSRI-D) questionnaire at 9-, and 15-months follow-up, with a 6-month recall period. Costs and healthcare resource utilization were calculated separately from the societal perspective for each of the following categories: inpatient care, day-care, outpatient care, pharmaceuticals, rehabilitation, and complementary non-medical services. Patient co-payments were also considered. Costs were monetarized using standardized unit costs derived from the literature or official statistics. Results: A total of 1171 patients (50.6% female, mean age = 46.3 years) were allocated into the study groups: 608 to intervention (IG) and 563 to the control group (CG). Overall, medications followed by inpatient care were the most utilized services at baseline assessment. In the six-months pre-index period, resource use and costs for inpatient days and day-care services were significantly higher in the intervention group, whereas control group displayed significantly higher resource use and costs for outpatient contacts. During the follow-up from baseline to nine months, differences in the use of resources and costs between intervention and control groups were seen only for inpatient days. Observed changes in resource use and costs were driven by psychotherapeutic treatments (IG = 18 167.2 € [sd=19 957.3] vs CG = 25 915.6 € [sd=21 757] cumulative mean costs within patients incurring ≥ 1 inpatient day; p < 0.01). The use of health services and costs between nine- and 15-months’ follow-up were similar between IG and CG for all categories of health services. Discussion: Results indicate the health economic potential of FIT models, although further evaluation of their cost-effectiveness is warranted.