Organisierte Sitzung

Kurzbiografie von Orphan Drugs, die die Umsatzschwelle überschreiten

Um die Entwicklung von Arzneimitteln gegen seltene Leiden (Orphan Drugs) trotz marktwirtschaftlicher Risiken zu fördern, müssen diese bei Markteintritt in Deutschland nicht das reguläre Nutzenbewertungsverfahren durchlaufen. Vielmehr wird für Orphan Drugs bereits mit der Zulassung auf €päischer Ebene und dem darauffolgenden Marktzugang ein Zusatznutzen als belegt angenommen (§ 35a SGB V) – unabhängig von der tatsächlichen Datenlage. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) versucht anhand der vom Hersteller vorgelegten Evidenz den Zusatznutzen zu quantifizieren. Ist keine Einordnung in die Kategorien „gering“, „beträchtlich“ oder „erheblich“ möglich, muss er dem Wirkstoff einen „nicht quantifizierbaren“ Zusatznutzen attestieren. In der Vergangenheit erfolgte eine reguläre Nutzenbewertung gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie durch das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) und den G-BA erst, wenn das Arzneimittel einen Jahresumsatz von 50 Mio. € überschritt. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FinStG) am 15.11.2022 wurde diese sogenannte Umsatzschwelle von 50 Mio. € auf 30 Mio. € herabgesetzt. In diesem Workshop sollen genau diese Verfahren aus unterschiedlichen Perspektiven näher beleuchtet werden.

Vorträge

Evidenz zu Orphan Drugs
Philip Kranz, IQWiG

Einleitung

Hintergrund Für Orphan Drugs wird bei Markzugang ein fiktiver Zusatznutzen festgestellt, eine reguläre Nutzenbewertung gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie des G BA erfolgt regehalft erst nach Überschreiten der Umsatzgrenze von 30 Mio. €. Um zu prüfen, ob der fiktive Zusatznutzen von Orphan Drugs bei Marktzugang gerechtfertigt ist, wurden die Ergebnisse der regulären Nutzenbewertungen von Orphan Drugs sowie die zugrunde liegende Evidenz analysiert. Methodik Es wurden alle Bewertungen eines Orphan Drug im Zeitraum Januar 2011 bis September 2021 herangezogen, für die eine reguläre Nutzenbewertung nach § 35a SGB V vorlag. Maßgeblich für die Feststellung des Bewertungsergebnisses waren die jeweiligen Beschlüsse des G-BA. Ergebnisse Im betrachteten Zeitraum wurde für 20 Orphan Drugs mindestens eine reguläre Nutzenbewertung durchgeführt. Diese Orphan Drugs wurden in insgesamt 78 Fragestellungen bewertet. In mehr als 50 % der Fragestellungen wurde kein Zusatznutzen abgeleitet. Auf Wirkstoffebene wurde nur für 15 % der 20 Orphan Drugs in allen bewerteten Fragestellungen ein Zusatznutzen festgestellt. Aus der Evidenzbasis ergibt sich, dass für rund die Hälfte der 78 Fragestellungen keine verwertbaren Daten für die reguläre Nutzenbewertung vorlagen. Dies war auch der häufigste Grund, dass kein Zusatznutzen abgeleitet wurde. Fazit Die Feststellung eines fiktiven Zusatznutzens bei Marktzugang von Orphan Drugs ist in mehr als der Hälfte der Fälle irreführend, da sich in späteren regulären Nutzenbewertungen kein Nachweis für einen Zusatznutzen ergibt. Dies führt nicht nur zu einer irreführenden Kommunikation über den Zusatznutzen neuer Orphan Drugs, sondern benachteiligt auch bereits vorhandene Therapieoptionen für seltene Leiden, die durch den fiktiven Zusatznutzen der neuen Orphan Drugs schlechter gestellt werden. Darüber hinaus verhindert der generelle fiktive Zusatznutzen, dass zwischen Orphan Drugs mit und ohne echtem Fortschritt für die Patientenversorgung unterschieden werden kann.

Preis- und Kostenentwicklung von Orphan Drugs
Christiane Balg, IQWiG

Einleitung

Balg, C; Frangen, K.; Schierbaum D; Schwalm A; Wronski, P; Mostardt, S (IQWiG) Hintergrund Die Bewertung von Orphan Drugs nach dem deutschen Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) erfolgt nach Marktzugang in Hinblick auf das Ausmaß des qua Gesetz belegten Zusatznutzens. Eine zweckmäßige Vergleichstherapie wird für diese Verfahren nicht festgelegt (hier bezeichnet als eingeschränkte Bewertung). Eine reguläre Nutzenbewertung gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie erfolgt u.a. nach Überschreitung der gesetzlich festgelegten Jahresumsatzgrenze. Im Anschluss an die Veröffentlichung des Beschlusses einer eingeschränkten Bewertung oder regulären Nutzenbewertung findet jeweils eine Preisverhandlung statt. Es wurde untersucht, inwiefern sich die Erstattungsbeträge im Rahmen der Preisverhandlungen der oben genannten Bewertungsverfahren verändern. Zudem wurden mögliche Einflussfaktoren auf die Preis- und Kostenentwicklung analysiert. Methodik Die Preise und Jahrestherapiekosten der ausgewählten Orphan Drugs wurden für 4 verschiedene Zeitpunkte ermittelt: 1) zum Zeitpunkt des G-BA-Beschlusses nach der eingeschränkten Bewertung 2) nach Preisänderung im Rahmen der eingeschränkten Bewertung 3) zum Zeitpunkt des G-BA-Beschlusses nach erstmaliger regulärer Nutzenbewertung 4) nach Preisänderung im Rahmen der erstmaligen regulären Nutzenbewertung Die Preisentwicklung eines Orphan Drug wurde anhand einer prozentualen Preisänderung und die Kostenentwicklung anhand der Höhe der Jahrestherapiekosten abgebildet. Als Einflussfaktoren wurden die Anzahl der Patientinnen und Patienten (Zielpopulation), das Ausmaß des Zusatznutzens auf Fragestellungsebene sowie weitere Ergebnisse zum Zusatznutzen durch Indikationserweiterungen betrachtet. Ergebnisse Es wurden 23 Orphan Drugs identifiziert und von 28 Preisänderungen nach eingeschränkten Bewertungen und 23 Preisänderungen nach regulären Nutzenbewertungen ausgegangen. Sowohl im Rahmen der eingeschränkten Bewertung als auch der regulären Nutzenbewertung wurden überwiegend Preis- und Kostenabsenkungen beobachtet. Die Anzahl der Patientinnen und Patienten zeigt keinen wesentlichen Einfluss auf die Preisänderungen. Die Ergebnisse zum Ausmaß des Zusatznutzens beeinflussen die Preisänderungen insbesondere bei regulären Nutzenbewertungen. Fazit Die Richtung der Preisänderungen im Sinne einer Preissenkung oder -steigerung wird maßgeblich durch die Ergebnisse zum Zusatznutzen bei regulären Nutzenbewertungen beeinflusst. Weitere Faktoren müssen die konkrete Höhe der Preisänderungen mitbeeinflussen.

10, 20, 30, 50? Die Arithmetik der Umsatzschwelle von Orphan Drugs
Julian Witte, Vandage

Einleitung

Die Umsatzschwelle für die Nutzenbewertung bei Arzneimitteln zur Behandlung eines seltenen Leidens (§35a Abs. 1 S. 12 SGBV) wurde im Zuge des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (FinStG) von 50 auf 30 Mio.€ reduziert. Hintergrund dieser vermeintlich nur geringfügigen AMNOG-Verfahrensanpassung ist eine Diskussion um die Verwertbarkeit von Evidenz zum Nutzen von Orphan Drugs. Gleichzeitig gilt Deutschland hinsichtlich des Zugangs von Orphan Drugs in die Erstattungssystematik im europäischen Vergleich als besonders niederschwellig. Im Durchschnitt sind neuzugelassene Orphan Drugs hierzulande nach ca.100 Tagen, und damit bedeutend schneller als in allen anderen europäischen Ländern, im Markt verfügbar. Kürzlich veröffentlichte Analysen auf Basis von Abrechnungsdaten der DAK-Gesundheit zeigen, dass unter Anwendung des durch das GKV-FinStG abgesenkten Umsatzschwellenwertes in Höhe von 30 Mio.€ in den letzten fünf Jahren zusätzlich fünf Orphan Drugs einer Vollbewertung unterzogen worden wären. Die zwischenzeitlich diskutierte niedrigere Umsatzschwelle in Höhe von 20 Mio.€ hätte noch einmal fünf weitere Orphan Drugs (also insgesamt zehn zusätzliche) mit in die Vollbewertung einbezogen. In einem sehr konservativen Rechenansatz wurden unter Anwendung von Rabattszenarien hypothetische Einsparungsvolumina für eine Umsatzschwelle in Höhe von 30 Mio.€ zwischen 10,1 Mio.€ (5%-Punkte zusätzlicher Rabatt nach Vollbewertung) und 40,5 Mio.€ (20%-Punkte zusätzlicher Rabatt) errechnet. Um das vom Gesetzgeber avisierte Einsparziel in jährlicher Höhe von 100 Mio.€ zu erreichen, hätten in den vergangenen Jahren zusätzliche Preisabschläge in Höhe von 50% vereinbart werden müssen – ein unrealistischer Wert. Bedeutende Einsparungen generiert die Umsatzschwelle also nicht. Hilft Sie dabei, Orphan Drugs in Deutschland möglichst früh nach Zulassung verfügbar zu machen? Unklar. Dabei war die bis zum Erreichen einer Umsatzschwelle geltende gesetzliche Fiktion eines Zusatznutzens von Orphan Drugs bereits in den vergangenen Jahren Gegenstand kontroverser Diskussionen. Gemäß entsprechenden Forderungen sollen alle Orphan Drugs unabhängig vom Umsatz einer (wenn möglich) komparativen Nutzenbewertung unterzogen werden. Kritiker bemängeln, dass dies Deutschland als Zugangsmarkt für Orphan Drugs unattraktiv machen würde, da entsprechende Erstattungsbeträge voraussichtlich geringer ausfallen würden. Zur Objektivierung dieser Debatte visualisiert der vorliegende Beitrag deshalb empirisch die bisherige Umsatzarithmetik von Orphan Drugs und diskutiert auf dieser und theoretischer Grundlage mögliche Verfahrensalternativen der bislang weitestgehend arbiträr gesetzten Umsatzschwelle hin zu einer effizienteren Ausgestaltung der zusatznutzenbasierten Preisbildung von Orphan Drugs in Deutschland.