Organisierte Sitzung

Opioidhaltige Analgetika bei nicht-tumorbedingten Schmerzen – Versorgungssituation, Problemfelder und Handlungsansätze in Deutschland

Deutschland gehört weltweit zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopfverbrauch opioidhaltiger Analgetika (OA). Nicht-tumorbedingte Schmerzen stellen in Deutschland die häufigste Indikation für eine Langzeitanwendung dar. Vor allem im Rahmen einer Langzeittherapie besteht jedoch ein erhöhtes Risiko für Komplikationen und Nebenwirkungen. Hierzu liegt eine S3-Leitlinie vor, die Empfehlungen zu Indikation und Therapie gibt, um Über- und Fehlversorgung sowie die Entstehung von Abhängigkeitserkrankungen zu verhindern. Im Rahmen des Symposiums wird vorgestellt, inwieweit dies gelingt und an welchen Stellen Anpassungsbedarfe im Versorgungskontext bestehen, um die Versorgungsqualität in Deutschland zu verbessern und eine Überversorgung mit OA zu vermeiden. Die Beiträge basieren auf den Analysen im Rahmen der Mixed-Methods Studie „Op-US“, die drei Datenstränge zusammenführt: Versorgungsepidemiologie (Routinedatenanalyse n=113.476 DAK Versicherte mit OA Langzeitverordnungen), Versorgungsanalyse (Versichertenbefragung n=661 Versicherte mit OA Verordnungen aufgrund v. Rücken-/ Arthroseschmerzen) sowie eine Leistungserbringerbefragung (422 niedergelassene Ärzte). Auf dieser Basis wurden fünf Problemfelder der aktuellen OA Langzeitverordnung aufgrund nichttumorbedigter Schmerzen herausgearbeitet, die vorgestellt werden. Abschließend werden die identifizierten gesundheitspolitischen Handlungsbedarfe sowie die entwickelten Lösungsansätze präsentiert und diskutiert.

Vorträge

Methodisches Vorgehen: Datengrundlage und Operationalisierung
Silke Neusser, Universität Duisburg-Essen

Einleitung

Im Rahmen des ersten Beitrags werden Fragestellung und methodisches Vorgehen der Studie „Opioidhaltige Analgetika - Untersuchung zu Entwicklungstrends in der Versorgung bei nicht-tumorbedingten Schmerzen“ (Op-US) vorgestellt. Zudem geht der Beitrag auf die Operationalisierung bedarfsgerechter Versorgung ein. Die Studie Op-US untersucht Langzeitverordnungen oioidhaltiger Analgetika (>3 Monate), aufgrund von nicht-tumorbedingter Schmerzen und verfolgt dabei einen Mixed-Methods Ansatz, bestehend aus Leitfadeninterviews, einer Routinedatenanalyse, einer Patienten- sowie einer Leistungserbringerbefragung. Im Symposium werden die verschiedenen Datenstränge dargestellt, mit Fokus auf die Routinedatenanalyse und die Patientenbefragung, die auch die wesentliche Grundlage für die Identifikation der Problemfelder bilden. Die Routinedatenanalyse basiert auf allen volljährigen Versicherten der DAK-Gesundheit, die zwischen Q1/2018 und Q2 2019 in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Quartalen jeweils mindestens eine OA-Verschreibung erhielten und keine Tumorerkrankung und/oder palliative Versorgung aufwiesen. Der Beobachtungszeitraum für die eingeschlossenen Versicherten betrug 2 Jahre. Für die Patientenbefragung wurde eine Zufallsstichprobe von 2.286 erwachsenen Versicherten der DAK-Gesundheit, die Langzeitverordnungen von opioiden Analgetika im Jahr 2020, keine Tumorerkrankung und/oder palliative Versorgung und ICD-Kodierungen hinsichtlich chronischer Rücken- oder Arthroseschmerzen aufwiesen. Die Versicherten wurden schriftlich zu ihrer Schmerzbelastung und zu ihrer Versorgungssituation befragt. Eine Zufallsstichprobe von Hausärzten, Orthopäden und Neurologen sowie die Mitglieder des Berufsverbandes der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland wurden schriftlich zu Hemmnissen und Hürden einer leitliniengerechten Versorgung von Schmerzpatienten befragt. Die gewonnen Daten bilden die Grundlage für die Analyse der Versorgungssituation.

Routinedatenanalyse von nicht-pharmazeutischen Therapiemaßnahmen und Abhängigkeits-Diagnosen bei Opioid-Langzeitpatienten mit chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen
Nils Schrader, Universität Duisburg-Essen

Einleitung

Anhand der Routinedatenanalyse wurde untersucht, inwieweit ergänzende nicht-pharmazeutische Therapiemaßnahmen aus den Leitlinienempfehlungen erbracht werden. In den Daten wurden sowohl die in der Leitlinie empfohlenen ergänzenden Therapiemaßnahmen (z.B. Physiotherapie, Psychotherapie) als auch Maßnahmen der ambulanten bzw. stationären Schmerztherapie identifiziert. Für jeden Patienten wurde die mindestens einmalige Inanspruchnahme im Zwei-Jahres-Zeitraum sowie die Inanspruchnahme im Beobachtungsverlauf bei gleichzeitiger Opioid-Verordnung überprüft. Von den 113.476 eingeschlossenen Patienten waren 75 % weiblich, das Durchschnittsalter betrug 72 Jahre. Im gesamten Beobachtungszeitraum konnten bei 23 % der Patienten Hinweise auf eine OA-Monotherapie gefunden werden. Krankengymnastik (59 % der Patienten) und psychosomatische Grundversorgung (37 %) wurden am häufigsten als ergänzende Therapiemaßnahmen erbracht. Patienten, die bereits vor dem Studieneinschluss mindestens ein Jahr OA erhielten (prävalente Patienten, 49 %), wiesen verglichen mit dem Rest der Kohorte (inzidente Patienten) zu Beobachtungsbeginn seltener ergänzende Maßnahmen auf. Während die Inanspruchnahme der Maßnahmen bei den prävalenten Patienten im weiteren Beobachtungsverlauf konstant blieb, sank die der inzidenten auf das Niveau der prävalenten Patienten ab. Zudem zeigten sich vor allem bei älteren Personen häufiger Hinweise auf eine OA-Monotherapie. Die Ergebnisse liefern Hinweise auf Risiken für eine mögliche Unter- bzw. Fehlversorgung bei den identifizierten Patientengruppen. Im weiteren Verlauf soll einerseits untersucht werden, ob die angewandten Maßnahmen den Therapieempfehlungen für die zugrundeliegenden Indikationen für eine OA-Therapie der Patienten entsprachen. Andererseits soll das Vorliegen von opioidbezogenen Störungen (ICD-10 F11.-) identifiziert werden.

Evaluation der Qualität der ambulanten Versorgung von SchmerzpatientInnen
Anja Niemann, Universität Duisburg-Essen

Einleitung

Schmerz ist einer der Hauptursachen für die Inanspruchnahme ambulanter Leistungen in Deutschland. Eine flächendeckende, vernetzte und qualitativ hochwertige Versorgung chronischer SchmerzpatientInnen zu vertretbaren Kosten kann langfristig Über- und Fehlversorgung entgegenwirken. Der Ansatz des Chronic Care Modells (CCM) befasst sich mit den vielfältigen Herausforderungen chronischer Erkrankungen und gibt evidenzbasierte Empfehlungen zur Verbesserung der Qualität der Versorgung. Unter anderem sollen PatientInnen durch Gesundheitsdienstleister in die Lage versetzt werden, ihre Erkrankung selbst aktiv und informiert zu managen; Das Praxisteam wird durch Wissen und ausreichende Ressourcen befähigt zu agieren statt zu reagieren. Im Rahmen der Patientenbefragung wurde die Versorgungsqualität (VQ) aus der Perspektive von PatientInnen mit Hilfe des PACIC-Instruments, das die Bewertung der VQ nach CCM operationalisiert, erhoben. Die Ergebnisse der 26 Fragen des PACIC wurden nach dem verhaltensorientierten 5A-Modell ausgewertet, das sowohl fünf Subskalen, als auch eine Summenskala umfasst (Ausprägung 1-5 mit steigender VQ). Darüber hinaus wurden explorative bivariate Subgruppenanalysen hinsichtlich patientenseitiger Merkmale und Aspekten einer Versorgung gemäß deutscher S3-Leitlinie durchgeführt. Insgesamt wurde die Summenskala mit 2,4 bewertet. Die Subskalen zeigen eine Spannbreite von 1,9 für „arrange“ (laufende Nachverfolgung des Behandlungsplans) und 2,8 für „agree“ (gemeinsame Behandlungsplanung). In den Subgruppenanalysen korrelierten Elemente einer leitliniengerechten Behandlung, wie die Vereinbarung von Therapiezielen, die Erstellung eines umfassenden Behandlungskonzepts und eine multimodale Behandlung, am stärksten positiv mit einer höheren VQ. Darüber hinaus korrelierten auch die Zufriedenheit mit der OA-Therapie und die Inanspruchnahme einer ambulanten schmerzmedizinischen Behandlung positiv. Die vorliegende Analyse zeigte eine klare Korrelation zwischen einer leitliniengerechten Behandlung und einer ambulanten Versorgung aus PatientInnenensicht. Gleichwohl wiesen die Ergebnisse, auch im Vergleich zu weiteren Erhebungen in deutschen Kohorten, ein deutliches Verbesserungspotential hinsichtlich der Versorgungsqualität auf.

Ansätze zur Verbesserung der Versorgungssituation von Patienten mit nicht-tumorbedingten Schmerzen im Rahmen einer Opioid-Langzeittherapie
Milena Weitzel, Universität Duisburg-Essen

Einleitung

Aufbauend auf die im Rahmen der Auswertung identifizierten Problemfelder wurden Ansätze zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit Langzeitverordnungen opioidhaltiger Analgetika erarbeitet. Zudem wurden leitfadengestützte Interviews mit Betroffenen, Leistungserbringern und Vertretern der GKV durchgeführt. Die ausgearbeiteten Reformansätze werden anschließend in einem Workshop mit Vertretern der Gemeinsamen Selbstverwaltung sowie Ärzten und Patientenvertretern hinsichtlich der Umsetzbarkeit diskutiert, um daraus gesundheitspolitische Empfehlungen ableiten zu können. Folgende Problemfelder wurden identifiziert: Allgemeine Versorgungsqualität, Opioid-Abhängigkeit, viele Opioidverschreibende, lange Einnahmedauer und Besonderheiten beim Inanspruchnahmeverhalten bzw. fehlende Multimodalität. Die Reformansätze befinden sich zum aktuellen Zeitpunkt noch in der Finalisierung. Ansatzpunkte, um die Versorgungssituation von Menschen mit nicht-tumorbedingten Schmerzen im Rahmen einer Langzeittherapie mit Opioiden zu verbessern, sind von dem jeweiligen Problemfeld abhängig. Zielorientierte und an die jeweiligen Bedarfe adaptierte Behandlungsansätze zur Überwindung der jeweiligen Problemlagen, stellen die Basis für Reformansätze dar. Die gesundheitspolitischen Handlungsempfehlungen, welche im Rahmen des Vortrages vorgestellt werden, gewährleisten die Überführung der Reformansätze in die Regelversorgung. Ansätze zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit nicht-tumorbedingten Schmerzen stellen einen wichtigen Schritt dar, um die Patientensicherheit und die Versorgungsqualität in diesem Bereich zu verbessern. Hierbei müssen jeweils mögliche Hemmnisse und Hürden, die einer Umsetzung in die Praxis entgegenstehen könnten, berücksichtigt werden.