Organisierte Sitzung

Herausforderungen an den Risikostrukturausgleich

Seit seiner Einführung im Jahr 2009 wurde der Morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (RSA) kontinuierlich weiterentwickelt. Zuletzt hat das Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FKG) aus dem Jahr 2020 den RSA maßgeblich verändert. Die Session besteht aus drei Beiträgen, welche sich verschiedenen auch nach dem GKV-FKG noch bestehenden bzw. dadurch bedingten Herausforderungen für den RSA widmen. Moderiert wird die Session von Prof. Dr. Volker Ulrich, dem Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS). Unter anderem wurde durch das GKV-FKG ein sogenannter Risikopool eingeführt. Über diesen werden die Kosten für besonders teure Versicherte zu 80% direkt aus dem Gesundheitsfonds ausgeglichen, so dass das finanzielle Risiko für Krankenkassen, das insbesondere durch neue hochpreisige Medikamente besteht, reduziert wird. Im ersten Vortrag wird Frau Dr. Demme (Leiterin der Gruppe RSA beim BAS) den Aufgreifalgorithmus von Arzneimitteln im RSA beleuchten und zeigen, welche Auswirkungen der Risikopool auf die Zuweisungen des Gesundheitsfonds für Versicherte, die mit hochpreisigen Pharmazeutika therapiert werden, hat. Die qualitätsorientierte Vergütung wird immer wieder als Mittel zur Verbesserung der Versorgung thematisiert. Gerade im Bereich der hochpreisigen Medikamente sind dabei in den letzten Jahren Pay-for-Performance (P4P)-Verträge eingesetzt worden. Im zweiten Vortrag wird Frau Dr. Schillo (BAS) das Sondergutachten des BAS im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit vorstellen, in dem die Interaktion und die dadurch entstehenden unerwünschten Anreizwirkungen zwischen P4P-Verträgen und dem Risikopool dargestellt und ein Lösungsvorschlag unterbreitet wird. Im dritten Vortrag wird sich Frau Prof. Dr. Wuppermann (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs beim BAS) methodischen Weiterentwicklungen des RSA widmen. Dabei wird sie Ergebnisse einer empirischen Analyse auf Basis von Krankenkassen-Routinedaten vorstellen, in der die Methode der Constrained Regression angewendet und deren Auswirkungen auf die Zielgenauigkeit sowie auf Fehldeckungen einzelner Gruppen im RSA untersucht werden. Die Session schließt mit einer Diskussionsrunde zu aktuellen Themen im RSA.

Vorträge

Hochpreisige Arzneimittel in Risikostrukturausgleich und Risikopool
Sylvia Demme, Bundesamt für Soziale Sicherung

Einleitung

Der wissenschaftliche Fortschritt bei neuartigen Arzneimitteltherapien ist immens. Damit einher geht ein deutlicher Ausgabenanstieg für neue patentgeschützte Arzneimittel, die im Jahr 2021 bereits rd. 52 Prozent der Nettokosten im GKV-Arzneimittelmarkt ausmachten (Arzneimittelkompass 2022). Zugleich ist der Anteil der Tagesdosen im Patentmarkt gesunken. Dies wird besonders deutlich bei Arzneimitteln für seltene Erkrankungen (Orphan Drugs), die in 2021 einen Kostenanteil von 13,5 Prozent des gesamten Arzneimittelmarktes hatten, jedoch nur mit sehr geringen Fallzahlen im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (RSA) einhergehen. Hier werden die Grenzen des RSA zwischen den Gesetzlichen Krankenkassen deutlich. Viele dieser neuen Therapien werden nur einmalig (oder mit sehr geringen Gaben) verabreicht, um eine Linderung der Symptome oder Genesung von Krankheiten herbeizuführen. Im prospektiv ausgestalteten RSA liegen damit die Zuweisungen für diese Patienten im Folgejahr deutlich unter den tatsächlichen Leistungsausgaben, die die Krankenkasse im Jahr der Verabreichung hatte. Vor diesem Hintergrund wurde der Risikopool eingeführt, um insbesondere die Finanzierbarkeit neuer kostenintensiver Arzneimitteltherapien zu fördern. In diesem Beitrag werden zunächst die Methodik und der Aufgreifalgorithmus erläutert, die zur Berücksichtigung von Arzneimitteln im Versichertenklassifikationsmodell angewendet werden. Das BAS hat untersucht, wie sich hochpreisige Arzneimittel im Modell auswirken. Hierzu wurde auf Grundlage von RSA-Daten mehrerer Berichtsjahre bei Morbiditätsgruppen mit hohen Kostenschätzern untersucht, wie sich diese Arzneimitteltherapien und die damit verbundenen Leistungsausgaben auf die Fallzahlen und die Jahreswerte der Zuweisungen – im Abschlagsverfahren (ohne Risikopool) und im Jahresausgleich (mit Risikopool) - auswirken. Diese Analysen verdeutlichen, dass der Risikopool die Zielsetzung, die Zielgenauigkeit des RSA durch eine deutliche Verringerung der Unterdeckung von Hochkostenfällen zu erhöhen, erfüllt. Zugleich setzt der Risikopool Anreize zum Abschluss von Pay-for-Performance-Verträgen für neuartige hochpreisige Arzneimitteltherapien.

Sondergutachten zu den Wirkungen von Pay-for-Performance-Verträgen vor dem Hintergrund des Risikopools
Sonja Schillo, Bundesamt für Soziale Sicherung

Einleitung

Im Versorgungsgeschehen werden seit einigen Jahren Pay-for-Performance-Verträge (P4P-Verträge) eingesetzt. Insbesondere Verträge, in denen die Kosten einer Arzneimitteltherapie für besonders hochpreisige Medikamente über Rabattvereinbarungen an den Behandlungserfolg gekoppelt werden, können im Zusammenspiel mit dem Risikopool (RP) des Risikostrukturausgleichs (RSA) negative Anreizwirkungen entwickeln. Dieser Beitrag erläutert den Vorschlag, den das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) in seinem vom Bundesministerium für Gesundheit beauftragten „Sondergutachten zu den Wirkungen von P4P-Verträgen vor dem Hintergrund des Risikopools“ gemacht hat, um die negativen Anreizwirkungen zu beseitigen und alle P4P-Verträge finanziell möglichst gleichzustellen. Anreize für Rückerstattungs- und gegen Ratenzahlungsmodelle ergeben sich daraus, dass bei Rückerstattungsmodellen der Schwellenwert des RP nur einmal angerechnet wird, während er bei Ratenzahlungsmodellen jedes Jahr neu anfällt. Außerdem können die Krankenkassen Erstattungsbeträge, die bei Therapieversagen geleistet werden, vollständig einbehalten, wenn die Erstattung nach der spätesten Meldung der berücksichtigungsfähigen Leistungsausgaben an das BAS erfolgt. Der Vorschlag des BAS zur Beseitigung dieser negativen Anreizwirkungen sieht vor, dass in einer neuen Datenmeldung alle Zahlungen und Erstattungen an und von einem pharmazeutischen Unternehmer (pU) gesammelt übermittelt werden. Damit lassen sich auch nach Meldung der Satzart 713 getätigte Zahlungsströme noch berücksichtigen und zu leistende RP-P4P-Ausgleichsbeträge sowie potenziell an den Gesundheitsfonds zurückzuführende Rückzahlungen ermitteln. Diese Rückzahlungen werden dabei auf die Höhe der Ausgleichsquote (80 %) der Höhe der vom pU erhaltenen Rückerstattung (maximal bis zur Höhe der P4P-Ausgleichsbeträge) festgelegt. Anhand von Rechenbeispielen kann gezeigt werden, dass damit in dieser Hinsicht eine finanzielle Gleichstellung der beiden Vertragsmodelle erreicht wird und zugleich weiterhin ein finanzieller Anreiz besteht, solche Verträge abzuschließen. Der vom BAS vorgelegte Vorschlag führt zu einer weitestgehenden Gleichstellung aller P4P-Verträge.

Neue Methoden im RSA: Exploration der Constrained Regression
Amelie Wuppermann, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Einleitung

Ziel des Risikostrukturausgleichs (RSA) ist es, Anreize zur Risikoselektion durch die Krankenkassen zu verhindern und dadurch faire Wettbewerbschancen zwischen den Krankenkassen zu schaffen. Zur Verhinderung von Selektionsanreizen ist es vor allem wichtig, dass keine durch die Krankenkassen identifizierbaren Personengruppen systematisch durch den RSA über- oder unterdeckt werden. Bei Aufdecken systematischer Über- oder Unterdeckung besteht die Möglichkeit, Indikatoren für die betroffenen Gruppen mit in den RSA aufzunehmen. Wie van den Ven und Ellis (2000) diskutieren, eignen sich allerdings nicht alle Variablen für die direkte Aufnahme in den RSA. Zum einen kann es vorkommen, dass Variablen nicht für alle Versicherten beobachtbar sind. Zum anderen gibt es Variablen, bei denen die Sorge besteht, dass sie manipulationsanfällig sind oder Versorgungsanreize setzen könnten. Solche Variablen sollten nicht direkt in den RSA aufgenommen werden, weil sie im Zweifel Personen, für welche ein Merkmal beobachtet wird, bevorzugen oder weil ihre Aufnahme in den RSA die Gesundheitsversorgung beeinflussen könnte. Die Methode der Constrained Regression bietet eine Möglichkeit, die Über- oder Unterdeckung für die betroffenen Gruppen zu reduzieren bzw. sogar komplett auszuschließen, ohne die Variablen direkt RSA-wirksam werden zu lassen. Hierzu wird die Regression des RSA unter der Nebenbedingung durchgeführt, dass die Kosten für die betroffene Gruppe im Mittel durch die Zuweisungen ausgeglichen, bzw. bis zu einem bestimmten Prozentsatz ausgeglichen sein müssen. In diesem Projekt explorieren wir auf Basis der Routinedaten der SBK, die auf die Gesamt-GKV hochgerechnet werden, die Auswirkungen der Constrained Regression für den Morbi-RSA. In einer ersten Anwendung der Methode wurde als Nebenbedingung eingeführt, dass die Kosten der Verstorbenen im Mittel ausgeglichen sein müssen. Es hat sich gezeigt, dass die Methode der Constrained Regression im System des deutschen RSA methodisch und rechentechnisch umsetzbar ist. Auch wurde durch die Anwendung der Methode die Rechenzeit gegenüber der aktuellen RSA-Regression nicht wesentlich verlängert. Ähnlich zu Ergebnissen der Anwendung von Constrained Regression im niederländischen RSA (van Kleef et al., 2020) zeigt sich für Deutschland, dass die Methode nicht nur Auswirkungen auf die in der Nebenbedingung einbezogene Gruppe, sondern auch Effekte auf die Über- und Unterdeckung anderer Gruppen hat. Aufbauend auf den Ergebnissen der bisherigen Analysen werden auch andere Variablen bspw. Hochkostenfälle und das Kennzeichen für die Erwerbsminderungsrentner in Nebenbedingungen eingeführt und die Auswirkungen dieser Änderungen analysiert.