Vortragssitzung

Mentale Gesundheit

Vorträge

Die Entwicklung des Suizidrisikos von Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen im ersten Jahr der COVID-19-Pandemie: Eine Kohortenstudie auf der Grundlage von Routinedaten
Alexander Engels, Institut für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Einleitung / Introduction

Zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie wurden ab März 2020 und erneut ab Dezember 2020 weitreichende Infektionsschutzmaßnahmen ergriffen, was jedoch die Versorgungssituation für Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich verschlechtert hat. Aus Patientenperspektive erhöhte sich der Behandlungs- und Unterstützungsbedarf u.a. aufgrund der unsicheren ökonomischen Situation, der Infektionsgefahr, der lückenhaften Informationslage und der Einschränkung von entlastenden sozialen Kontakten. Zugleich mussten Gesundheitseinrichtungen ihre Aktivitäten stark einschränken oder vorübergehend einstellen. In dieser Routinedatenanalyse sollte geprüft werden, wie sich das Suizidrisiko von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen im ersten Jahr der Pandemie durch diese Belastung entwickelt hat

Methode / Method

Es wurden Abrechnungsdaten des wissenschaftlichen Instituts der AOKen verwendet, um n=690,845 Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen zwischen dem 01.10.19 und dem 31.03.20 und n=693,457 Patienten im entsprechenden Vorjahreszeitraum zu selektieren. Für beide Kohorten wurden Kovariaten für die 9-monatige Vorperiode ermittelt, um für mögliche Kohortenunterschiede via Entropy Balancing zu adjustieren. Anschließend wurden beide Kohorten hinsichtlich des Suizidrisikos in einem 12-monatigen Follow-Up-Zeitraum mithilfe einer logistischen Regression verglichen. Hierbei wurden Suizide als Tode von Patienten mit einer Vorgeschichte von vorsätzlicher Selbstverletzung (ICD-10: X60-X84) definiert. Mithilfe der stationären Daten konnte ausgeschlossen werden, dass dem Tod ein Krankenhausaufenthalt aufgrund von Covid-19 (U07.1) oder – in einer Sensitivitätsanalyse – einer anderen körperlichen Erkrankung vorausging.

Ergebnisse / Results

Insgesamt wurden n=128 mögliche Suizide während der Pandemie und n=101 in der Kontrollkohorte beobachtet. Dies entspricht einem signifikanten Anstieg des Suizidrisiko um 27.4%, β = 0.24, z= 1.82, p<0.05. Explorativ zeigte sich eine besonders hohe Anzahl von möglichen Suiziden während der zweiten Infektionswelle im Dezember 2020 und Januar 2021.

Zusammenfassung / Conclusion

Der verwendete Proxy für Suizide unterschätzt das wahre Suizidrisiko, da Suiziden oft keine dokumentierte vorsätzliche Selbstschädigung vorausgeht. Dennoch deutet die vorliegende Analyse darauf hin, dass sich das Suizidrisiko von Patienten mit schweren psychischen Vorerkrankungen während der Pandemie deutlich erhöht hat. Es ist womöglich nicht gelungen, die zusätzlichen Belastungen während der Pandemie ausreichend abzufedern um besonders vulnerable Gruppen ausreichend zu schützen.


AutorInnen
Alexander Engels, Institut für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Claudia Konnopka, Institut für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Hans-Helmut König, Institut für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
The Unintentional Costs of Austerity
Dennis Gottschlich, Heinrich-Heine University (DICE)

Einleitung / Introduction

This paper estimates the causal effect of social welfare spending on citizens' (mental) health. For identification, we exploit the large-scale cuts in social welfare spending in the United Kingdom during the early 2010s that affected different regions across the country to significantly varying extent. We link the resulting local variation in the intensity of these austerity reforms to practice-level diagnostics data and set up a difference-in-differences design to uncover causal effects. Our estimates show that those regions particularly affected by spending cuts experienced a notable increase in depression prevalence rates. Back-of-the-envelope calculations suggest that the spending cuts caused unanticipated annual costs of up to £7 billion. We address potential concerns regarding changes in diagnoses and health seeking behavior by analyzing effects on ``hard outcomes'' such as Drug related Deaths and life-expectancy and find effects of the austerity measures on those outcomes. We additionally rule out that the effect is solely driven by the financial crises by controlling for unemployment rates. We provide complementary results addressing concerns regarding individuals' mobility. The rich nature of individual survey data shall be further used to identify those subgroups mostly affected by cuts in social welfare. While affluent individuals will be most likely unaffected by the set of implemented policies, we expect austerity to particularly affect the poor and left-behind. Eventually, our results shall be used to calculate the hidden (welfare) costs of austerity.


AutorInnen
Dennis Gottschlich, Heinrich-Heine University (DICE)
The causal effect of terrorist attacks on anxiolytic and antidepressant prescribing
David Simón Jonathan Anchu Probst, Leibniz Universität Hannover | Institut für Gesundheitsökonomie

Einleitung / Introduction

Empirical evidence on anxiolytic (e.g., benzodiazepines) and antidepressant (e.g., tricyclic antidepressants) prescribing following an external shock is mostly limited to a major singular event. Examples include the September 11th, 2001 attacks on the World Trade Center (Gouraud et al. BMJ Open 2021), the attacks on a Paris night club in November 2015 (Gouraud et al, BMJ Open 2021) or single natural disasters (e.g., earthquakes). Taking the focus on terrorism, large attacks often dominate the news cycle for some time, overlooking the fact that more frequent, small-scale attacks can also have ferocious effects on psychic population health compared to singular and isolated events to the attack continuum and randomness, thereby leading to panic attacks and anxiety disorders that require (immediate) medical attention, most likely increasing pharmaceutical antianxiety and antidepressant medications and - by extension - psychotherapeutic care. We also investigate the economic impact from a prescription cost perspective.

Methode / Method

We leverage monthly panel data from 2015 to 2019 including all primary as well as hospital-associated, emergency, and community-based care prescription issuing facilities in England and featuring a rich set of patient and physician covariates. We opt for a combination of this data with the Global Terrorism Database, maintained by the University of Maryland, which allows for attack identification. The data provides detailed information on individual attacks such as date, type of attack political motivation and the number of casualties as well as geocoded spatial information. During this time frame, 71 terrorism-classified attacks are reported. Spacial techniques are used to map attack perimeters to prescription issuing facilities (LSOA patient flows enable facility identification) within a Difference-in-Difference framework exploring the impact of terrorist attacks on anxiolytic and antidepressant prescriptions, thereby exploiting the exogenous variation introduced by terroristic events.

Ergebnisse / Results

The association between terrorism and anxiolytics has not been studied in a panel data setting and results may offer valuable insights with regard to psychiatric patient care. We expect to find moderate prescription increases in affected prescribing facilities, which mostly depend on attack intensity/severity.


AutorInnen
David Simón Jonathan Anchu Probst, Leibniz Universität Hannover | Institut für Gesundheitsökonomie
Unerwünschte Ereignisse im Kontext digitaler Psychotherapie: ein systematisches Literaturreview
Juliana Schmidt, Universität Bielefeld

Einleitung / Introduction

Die Wirksamkeit digitaler Therapieprogramme bei psychischen Erkrankungen wie Depression oder Angststörung wurde in zahlreichen Studien und Übersichtsarbeiten untersucht und nachgewiesen. In seinem jüngsten Digitalisierungsgutachten kommt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) jedoch zu dem Schluss, dass Schadensaspekte bislang nur unzureichend analysiert wurden. Potenzielle unerwünschte Ereignisse sollten jedoch insbesondere bei Interventionen, welche Patienten primär in Eigenanwendung nutzen, nicht vernachlässigt werden. Ziel dieses Beitrags ist erstens die Bewertung, in welchem Umfang Schadensaspekte im Rahmen von Wirksamkeitsstudien zu digitalen Psychotherapieprogrammen Berücksichtigung finden. Zweitens wird die verfügbare Evidenz zu Schadensendpunkten im Rahmen der qualitativen Synthese zusammenfassend dargestellt.

Methode / Method

Es wurde eine systematische Recherche in PubMed, CINAHL, PsycINFO und PSYNDEX durchgeführt. Eingeschlossen wurden zwischen 2008 und 2022 veröffentlichte experimentelle und quasi-experimentelle Studien, welche die Effekte app- oder webbasierter psychotherapeutischer Interventionen, welche primär in Eigenanwendung genutzt werden, in einer diagnostizierten Population evaluiert haben. Die Qualität der eingeschlossenen randomisiert kontrollierten Studien wurde anhand des Revised Cochrane risk-of-bias tool for randomized trials (RoB 2) bewertet.

Ergebnisse / Results

Die systematische Recherche ergab insgesamt 1.064 Treffer. In 52 der 72 (72,2%) Studien, welche die Einschlusskriterien erfüllten, wurden keine Schadensaspekte berücksichtigt. 20 Studien untersuchten Schadensaspekte und wurden entsprechend in die qualitative Synthese eingeschlossen. Die drei am häufigsten betrachteten Indikationsbereiche waren Depression, Schizophrenie und Essstörung. Schadensaspekte wurden am häufigsten (n= 4) in den Indikationsbereichen Schizophrenie und Depression (bei Kindern/Studierenden) beschrieben. Berichtete unerwünschte Ereignisse standen häufig nicht im Zusammenhang mit der Intervention, sondern mit der initialen Erkrankung (bspw. Depressivität). Hinsichtlich des Vorkommens von Schadensaspekten weisen die Studien insgesamt heterogene Ergebnisse auf.

Zusammenfassung / Conclusion

Die Berücksichtigung von Schadensaspekten stellt in Evaluationsstudien zu digitalen Psychotherapieinterventionen die Ausnahme dar. Studien, welche selbige betrachtet haben, zeichnen ferner kein eindeutiges Bild, was auch auf die Heterogenität der ausgewählten Schadensendpunkte zurückzuführen ist. Die vorliegende Arbeit verdeutlicht somit den Bedarf nach einer konsequenten und stärker standardisierten Einbindung von Schadensendpunkten in die Evaluation der digitalen Psychotherapie. Dies könnte nicht zuletzt zu einer gesteigerten Akzeptanz auf Seiten von Nutzern und Verordnern beitragen.


AutorInnen
Juliana Schmidt, Universität Bielefeld
Daniel Gensorowsky, Vandage GmbH
Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld