Vortragssitzung

Krankenversicherung und Risikostrukturausgleich

Vorträge

Weiterentwicklung des RSA – Berücksichtigung sozio-ökonomischer Versichertenmerkmale
Theresa Hüer, Universität Duisburg-Essen

Einleitung / Introduction

Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (RSA) in der GKV ist ein „lernendes System“. Dieser Beitrag befasst sich mit einer möglichen Weiterentwicklung durch die Berücksichtigung sozio-ökonomischer Versichertenmerkmale. Es handelt sich um ein Gutachten des Essener Forschungsinstituts für Medizinmanagement und des Lehrstuhls für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen.

Methode / Method

Diese Studie untersucht die Deckungssituation von vier über sozioökonomische Merkmale identifizierten Personengruppen im aktuellen RSA sowie ihre mögliche Berücksichtigung im RSA. Untersucht werden Merkmale, für deren Auswahl neben ihrer Verfügbarkeit bei den Krankenkassen insbesondere auch ihre Manipulationsresistenz sowie ihre Relevanz sprechen: Bezug von Leistungen der Pflegeversicherung, von Arbeitslosengeld II, einer Erwerbsminderungsrente sowie das Vorliegen einer Zuzahlungsbefreiung nach § 62 SGB V („Härtefälle“). Empirische Basis der Untersuchung ist ein großer, an die GKV adjustierter Datensatz mit rund 9,2 Mio. AOK-Versicherten. Um Verzerrungen durch die COVID-19-Pandemie zu vermeiden, dienten die Jahre 2018 und 2019 als Datenbasis. Es wurde das RSA-Modell des Jahres 2021 verwendet, so dass die RSA-Reform durch das GKV-FKG berücksichtigt wird.

Ergebnisse / Results

Im aktuellen RSA (inkl. Risikopool und Regionalmerkmalen) weisen die vier Versichertengruppen (zum Teil deutliche) Unterdeckungen auf: Die größte prozentuale Unterdeckung weist die Gruppe der Pflegebedürftigen auf (86,2 %), gefolgt von den „Härtefällen“ (89,0 %), den Erwerbsminderungsrentnern (90,5 %) und den ALG II-Empfängern (95, 3 %). Innerhalb der Gruppe der Pflegebedürftigen zeigen sich allerdings deutliche Deckungsquotenunterschiede: In der stationären Versorgung besteht eine deutliche Überdeckung (106,0 %) und in der ambulanten pflegerischen Versorgung eine deutliche Unterdeckung (82,1 %). Ein entsprechendes Bild zeigt sich bei der Untersuchung der Deckungsbeiträge in Euro. Diese systematischen Unterdeckungen können durch Einbezug der entsprechenden Variablen in das RSA-Modell im Durchschnitt vollständig egalisiert werden. Die Performance des RSA (gemessen über die üblichen Maße R2 und CPM) verbessert sich dabei.

Zusammenfassung / Conclusion

Die untersuchten Versichertengruppen sind im aktuellen RSA systematisch unterdeckt. Dadurch bestehen bei Krankenkassen Anreize möglicher Risikoselektionsstrategien. Unterschiedliche Verteilungen solcher unterdeckten Versichertengruppen haben zudem Auswirkungen auf den Kassenwettbewerb. Die Berücksichtigung der sozio-ökonomischen Versichertenmerkmale im RSA ist in der Lage, diese Unterdeckungen zu beheben. Aufgrund der empirischen Ergebnisse wird empfohlen, den RSA um Merkmale für Härtefall-Status, Erwerbminderungsstatus und das Vorliegen von ambulanter bzw. stationärer Pflegebedürftigkeit zu ergänzen.


AutorInnen
Gerald Lux, Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement
Florian Buchner, Fachhochschule Kärnten
Theresa Hüer, Universität Duisburg-Essen
Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen
Optimale Vergütung von Experten mit unbekanntem Altruismus: Eine Anwendung in Medizinischer Entscheidungstheorie
Stefan Felder, Basel Center for Health Economics

Einleitung / Introduction

Ärztinnen und Ärzte wissen mehr darüber, welche medizinische Leistungen ihre Kundschaft benötigt als diese selbst. Dies kann zu Unter- und Überversorgung in der Diagnostik und Therapie führen. Auch Kostenträger unterliegen einem Mangel an Information über die Angemessenheit von beobachteter ärztlicher Leistungserbringung. Sie werden in Rechnung stellen, dass Ärztinnen und Ärzte teilweise altruistisch motiviert sind, jedoch deren individuellen Grad des Altruismus nicht beobachten können. Sie sehen sich damit vor der Herausforderung, eine möglichst effiziente Vergütung zu entwickeln.

Methode / Method

Wir modellieren eine medizinische Entscheidungssituation mit zwei Behandlungsmethoden für Patienten und Patientinnen unter Unsicherheit darüber, ob diese schwer oder nur leicht erkrankt sind. Bei schwerer Erkrankung benötigen diese eine intensive Behandlung, bei leichter Erkrankung reicht eine normale Therapie aus. Die a priori Wahrscheinlichkeit der schweren Erkrankung kennt nur das ärztliche Fachpersonal. Möglicherweise steht ein Test zur Verfügung, mit dem die Wahrscheinlichkeit, schwer erkrankt zu sein, näher abgeklärt werden kann. In diesem Rahmen kann untersucht werden, wie die erstbeste Vergütung bei Kenntnis des Altruismus von Ärztinnen und Ärzten aussieht. Wenn der Kostenträger den Altruismus nicht beobachten kann, ist jedoch nur eine zweitbeste Lösung möglich.

Ergebnisse / Results

Bei Kenntnis des individuellen Altruismus können die Kostenträger das Entscheidungsverhalten der Ärztinnen und Ärzte über den Anteil der Kosten, den sie erstatten, und eine Grundgebühr steuern. Bei vollkommenem Altruismus ist lediglich die Grundgebühr optimal, bei vollkommenem Egoismus werden dagegen alle Kosten erstattet. Für mittleren Altruismus ist eine teilweise Kostenerstattung optimal. Patienten und Patientinnen werden effizient behandelt, unabhängig davon, wie hoch ihre Wahrscheinlichkeit ist, schwer erkrankt zu sein, wie hoch die Behandlungskosten sind und wie stark sie von der Behandlung profitieren und bei leichter Erkrankung unter Nebenwirkungen einer intensiven Behandlung leiden. Bei nicht möglicher Zuordnung des Altruismus zu individuellen Ärztinnen und Ärzten kommen nur noch zweitbeste Verträge in Frage. Wir bestimmen den optimalen vereinenden Vertrag. Er gleicht die Überversorgung der eher altruistisch Motivierten mit der Unterversorgung von eher egoistisch Motivierten in optimaler Weise ab.

Zusammenfassung / Conclusion

Die Arbeit verbindet Modelle aus der medizinischen Entscheidungstheorie und der Literatur zu Vertrauensgütern und leitet optimale Vergütungssysteme für Ärztinnen und Ärzte bei unbekanntem Altruismus her.


AutorInnen
Stefan Felder, Basel Center for Health Economics
Mathias Kifmann, Hamburg Center for Health Economics
Bewertung von Pharmakostengruppen als Erweiterung des Krankheits-Vollmodells im deutschen Morbi-RSA
Christian Schindler, WIG2 GmbH

Einleitung / Introduction

Um einen fairen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen zu gewährleisten, wurde 2009 in Deutschland ein morbiditätsorientierter Risikoausgleich (Morbi-RSA) eingeführt. Dabei spielt die Erfassung der Morbidität der Versicherten eine entscheidende Rolle, die vor allem über Diagnosedaten erfolgt. Bei der Verwendung von Diagnosedaten ist eine zuverlässige Kodierung im medizinischen und epidemiologischen Sinne von hoher Priorität. In den vergangenen Jahren fand eine intensive Diskussion statt, die sich vor allem mit der Manipulierbarkeit des Ausgleichssystems und der Kodierqualität insbesondere ambulanter Diagnosen beschäftigte. Die Berücksichtigung von Arzneimitteln wird in der Literatur als potenziell manipulationsresistentere Alternative aufgeführt. Da diese sich jedoch nicht immer eindeutig konkreten Krankheiten zuordnen lassen, sind sie als Risikofaktoren in dem bis 2020 verwendeten Ansatz einer selektiven Krankheitsauswahl nur eingeschränkt anwendbar. Mit der Einführung des Vollmodells im Jahr 2021 hat die Frage nach einer Aufnahme von Pharmakostengruppen (PCGs) erneut an Relevanz gewonnen. Dieser Beitrag stellt ein Modell unter Einbezug von PCGs vor, womit erstmalig die Wirkung einer Arzneimittelkomponente unter dem Wegfall einer Krankheitsauswahl im Morbi-RSA bewertet werden kann.

Methode / Method

Im ersten Schritt wurden im Rahmen einer strukturierten Recherche international entwickelte Pharmaklassifikationsmodelle ermittelt. Anschließend wurde ein geeignetes, verfügbares Modell auf die deutschen Verhältnisse angepasst. Um eine Vergleichbarkeit zum Status quo herzustellen, wurde eine repräsentative Stichprobe für die deutsche GKV erstellt, anhand derer verschiedene Modellvarianten simuliert werden sollen. Zur Beurteilung der Modelle wird das Bestimmtheitsmaß (R²), Cumming's Predictive Measure (CPM) und der mittlere absolute Vorhersagefehler (MAPE) verwendet. Um die Genauigkeit der Zuweisungen zu bewerten, werden die Deckungsquoten verschiedener Risikogruppen herangezogen.

Ergebnisse / Results

Bisherige Auswertungen zeigten, dass die zusätzliche Verwendung von PCGs die Modellgüte erheblich steigern können und die Überdeckung von gesunden Versicherten abgebaut wird. Dies gilt es unter den neuen Umständen – Wegfall der Krankheitsauswahl und Einführung eines Risikopools – zu überprüfen.

Zusammenfassung / Conclusion

Wir erwarten weiterhin eine verbesserten individuellen Modellgüte, eine reduzierte Überdeckung von gesunden Versicherten, ein Abbau von Manipulationsanfälligkeit des Verfahrens und einen erhöhten Morbiditätsaufgriff. Interessant ist vor allem, inwieweit die neuen Gegebenheiten die Effekte einer Arzneimittelkomponente beeinflussen.


AutorInnen
Christian Schindler, WIG2 GmbH
Benjamin Berndt, WIG2 GmbH
Ines Weinhold, WIG2 GmbH
Der Einfluss von Hochkostenfällen auf GKV-Ausgabenprognosen
Stefan Fetzer, Hochschule Aalen

Einleitung / Introduction

Analysen zu Ausgabenverteilungen in der GKV und darauf aufbauende Prognosen zukünftiger Gesundheitsausgaben können im Kontext steigender Gesundheitsausgaben und alternder Bevölkerungen wichtige Anhaltspunkte für Entscheidungsträger liefern. Bisherige Ausgabenprognosen für die GKV konzentrieren sich neben demografischen Einflussfaktoren im Wesentlichen auf die Frage nach der Berücksichtigung von Sterbekosten und der zukünftigen Entwicklung eines überproportionalen Gesundheitsausgabenwachstums (vgl. Breyer & Lorenz (2021) oder Breyer et al. (2021)). Eine explizite Berücksichtigung von Hochkostenfällen ist unserer Kenntnis nach bisher nicht erfolgt. In unserer Arbeit zeigen wir, wie die Berücksichtigung von Risikogruppen und deren spezifische Eigenschaften (Lebenserwartung, Ausgaben in unterschiedlichen Leistungsbereichen und Sterbekosten) Ausgabenprognosen beeinflussen. Hierbei werden innerhalb eines Markov-Modells unterschiedliche Szenarien entwickelt und der in bestehender Literatur häufigen Status-quo-Fortschreibung (mit und ohne Berücksichtigung von Sterbekosten) gegenübergestellt.

Methode / Method

Basierend auf ihrem Anteil an den Gesundheitsausgaben unterteilen wir die Studienpopulation von rund 4,5 Mio. Versicherten der AOK Baden-Württemberg in zehn gleich große Risikogruppen, wobei wir die Gruppe mit dem höchsten Risiko noch weiter unterteilen (1, 2-5 und 5-10 Prozent). Für jede Risikogruppe ermitteln wir Überlebenswahrscheinlichkeiten und Übergangswahrscheinlichkeiten zu allen Risikogruppen in der Folgeperiode sowie Kosten für Überlebende und Verstorbene nach Geschlecht, Alter und Leistungssektoren. Diese risikospezifischen Faktoren werden zusammen mit den Bevölkerungskomponenten in einem Markov-Modell fortgeschrieben. In unterschiedlichen Szenarien kann damit modelliert werden, wie unterschiedliche Annahmen (insbesondere für die Parameter der Hochrisikogruppen) die GKV-Ausgabenentwicklung beeinflussen.

Ergebnisse / Results

Erste Ergebnisse zeigen, dass ein Zugewinn an Lebenserwartung in den Hochrisikogruppen einen höheren Einfluss auf die zukünftigen Ausgaben haben wird als die Berücksichtigung von Sterbekosten. Sollte sich zudem auch der Wachstumstrend der Hochkostenfälle vor allem bei den Arzneimittelausgaben fortsetzen, muss mit einer starken Zunahme der GKV-Ausgaben gerechnet werden.

Zusammenfassung / Conclusion

Mit dem hier beschriebenen kombinierten Markov-Modell kann der Einfluss detaillierter Annahmen zu risikogruppenspezifischen Überlebenswahrscheinlichkeiten, Wachstumstrends in verschiedenen Leistungssektoren und Sterbekosten von Hochrisikofällen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen auf die zukünftigen GKV-Ausgaben genauer untersucht werden als mit den bisher üblichen Status-quo-ähnlichen Fortschreibungen, die heutige Querschnittsprofile auf eine alternde Bevölkerung übertragen.


AutorInnen
Stefan Fetzer, Hochschule Aalen
Christian Hagist, WHU Otto Beisheim School of Management
Valeska Hofbauer-Milan, WHU Otto Beisheim School of Management /AOK Baden-Württemberg